Phantasmagorien – Wunsch-, Trug- oder Wahnbilder

Plädoyer für die Förderung der Struktur der freien Kulturszene beschreibt Martin Böhm

 

„Die Matrix ist ein System, Neo. Das System ist unser Feind. Was aber siehst du, wenn du dich innerhalb des Systems bewegst? Geschäftsleute, Lehrer, Anwälte, Tischler – die mentale Projektionen der Menschen, die wir zu retten versuchen. Bis es dazu kommt, sind diese Menschen noch immer Teil des Systems. Und das macht sie zu unseren Feinden.”

„Viele dieser Menschen sind so angepasst und vom System abhängig, dass sie alles dafür tun, um es zu schützen.”1

In der Trilogie The Matrix wird die Welt als eine lediglich gigantische Software (Matrix) vorgeführt, währenddessen der Mensch unter der Erdoberfläche in einem Brutkasten sein materielles Dasein fristet. Bei Platons Höhlengleichnis hingegen gleicht das menschliche Dasein einem Leben in einer unterirdischen Höhle, einer Schattenwelt. Hier sitzen die Menschen gefesselt mit dem Rücken zum Ausgang und nehmen die Schatten als Realität wahr. Würde eine die Höhle verlassen und sich nach einiger Zeit an die neue wirkliche Welt gewöhnt haben und anschließend in die Höhle zurückkehren, dann würde der „Aufklärerin” niemand glauben, und am Ende könnten sie die in der Höhle Gebliebenen aus Zorn töten. Im Unterschied zu Platons Höhlengleichnis ist die Matrix als Scheinwelt wesentlich komfortabler, und wenige Gründe sprechen für das Verlassen dieser. Obwohl es nach Roger Behrens vielleicht kulturkonservativ und pessimistisch erscheinen mag, nimmt er das Höhlengleichnis stellvertretend für die gegenwärtige gesellschaftliche Funktion von Kultur her, im Speziellen der Popkultur, und die Matrix als postmoderne Fassung. Fernab der Fragen von Schein und Sein, Fiktion und Realität und des Vorwurfs des Idealismus, gilt es aber nun zu fragen, was die Matrix strukturiert (das ökonomische System, abstrakte Tauschbeziehungen von den Menschen untereinander) und zusammenhält.Betrachtet man beispielhaft das ökonomische System, so kann dieses in drei Sektoren eingeteilt werden: den öffentlichen (staatlichen), gewinnorientierten (privatwirtschaftlichen) und dritten (gemeinwirtschaftlichen) Sektor. Dem letztgenannten dritten Sektor wird arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitisch ein enormes Potential zugesprochen. Hier agieren Non-Profit Organisationen im intermediären Bereich zwischen Staat und Markt, und im Gegensatz zu den anderen Sektoren ist dieser Sektor im Wesentlichen von Solidarität abhängig. Sie ist Motiv, Motivation und das Medium der Handlungskoordination von Mitgliedern, Mitarbeiterinnen und Förde¬rinnen. So können ohne Zufluss der Ressource Solidarität Dritte Sektor-Organisationen im Gegensatz zu den marktwirtschaftlichen und staatlichen Einrichtungen nicht überleben.2 In der theoretischen Diskussion werden Dritte-Sektor Organisationen unterschieden in supply-side und demand-side Organisationen, also danach, ob die Motivation der Konsumentinnen oder die der Anbieterinnen für die Wahl der Organisationsform betrachtet wird. Aus historischer Sicht wird von gewachsenen und gewollten Organisationen („top-down” Gründungen) gesprochen. Der Fokus konzentriert sich hier auf die Staatsversagens-Hypothese, d.h. diese Organisationen füllen ein Vakuum, das staatliche und private Organisationen nicht füllen können oder wollen,3 und sind wesentlich für die Herstellung des „sozialen Zusammenhalts”. Sie gleichen Defizite von Familie, Arbeit und öffentlichem Leben aus.4 Kulturvereine abseits privater oder staatlicher Anbieterinnen sind oftmals keine gewollten Organisationen, sondern hi¬storisch gewachsen. Sie sorgen für die kulturelle Nahversorgung und sind somit unerlässlich für die Lebensqualität in der Region. Da bei der Matrix und dem Höhlengleichnis jede Form menschlicher Praxis fehlt, bleiben sie im Idealismus verfangen. Bereits Aristoteles hat dies bei Platon kritisiert und den Wirklichkeitsbegriff hinsichtlich der Kategorie „Möglichkeit” korrigiert und erweitert.5 Auch die Kulturpolitik muss Möglichkeiten und Experimentierräume schaffen und könnte die gegenwärtige Krise nutzen, um in Zeiten des Schwindens der Erwerbsarbeit die „Seele der Demokratie: Bezahlte Bürgerarbeit” (Ulrich Beck) zu forcieren. Vorerst braucht es jedenfalls, um die Matrix stabil zu halten oder zu stabilisieren bzw. um sie interessanter und abwechslungsreicher zu gestalten, alternative freie – nicht von Quoten abhängige und an der Mehrheit angepasste – Kultur und eine starke Struktur. Hauptamtliche Tätigkeiten dürfen nicht „ehrenamtlich” entlohnt werden. Dieser möglichen Entwicklung in Arbeitsfeldern des dritten Sektors muss entgegen¬gewirkt und Strukturen müssen gefördert werden.

1 Behrens, Roger (2003): Die Diktatur der Ange¬passten. Transcript Verlag, Bielefeld, 24. 22,6 vgl. Behrens, Roger (2003): Die Diktatur der Angepassten. Transcript Verlag, Bielefeld, 23f. 3 Birkhölzer, Karl/Klein, Ansgar/Priller, Eckhard/Zimmer, Annette (Hg., 2005): Theorie, Funktionswandel und zivilgesellschaftliche Perspektiven. In: Ders. (Hg.): Dritter Sektor/Drittes System. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 10. 4 Böhm, Martin (2009): Öffentlich finanzierte und getragene Kulturorganisationen als Kulturanbieter und Arbeitgeber. In: Böhm, Martin/Siegl, Katharina: Arbeitsmarkt Kultur – Eine Annäherung in Theorie und Praxis am Beispiel der Stadtregion Linz, Diplomarbeit, Johannes Kepler Universität Linz, S. 66f. 5 Zimmer, Annette/Priller, Eckhard (2007): Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 26.

Martin Böhm ist Soziologe, Dipl. Behindertenpädagoge und Kulturaktivist bei qujOchÖ – experimentelle Kunst- und Kulturarbeit. Lehrbeauftragter für Soziologie am Ausbildungszentrum für Sozialbetreuungsberufe der CMB OÖ.

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