Verena Giesinger über FLINTA*-Vorbilder in der Musikbranche.
Dass ich die Berufsbezeichnung ‹Dirigentin› für mich verwende, ist eine junge Entwicklung. Obwohl ich bereits seit über acht Jahren als solche tätig bin, meinen eigenen Chor gegründet habe und als künstlerische Leiterin arbeite, habe ich mich bislang nicht getraut, diese Berufsbezeichnung für mich zu besetzen. Geschweige denn, mich für meine vielen Stunden höchst professionelles Arbeiten auch fair bezahlen zu lassen. Gründe, weshalb die Identifikation und das selbstbewusste Benennen – daraus abgeleitet auch das Handeln – für mich so lange gedauert haben, gibt es viele. Ein wesentlicher sind für mich aber die fehlenden FLINTA*-Vorbilder in der österreichischen Musikbranche.
Unsichtbarkeiten
Fehlende Rolemodels auf Österreichs Bühnen heißt nicht, dass es sie nicht gibt – enorm talentierte FLINTA*-Personen werden allerdings dort nicht sichtbar. Es ist erschreckend, wie wenig in Österreich lebende Musikerinnen* mir auf Anhieb einfallen und wie unverhältnismäßig viele weiße Cis-Männer ich nennen kann. Nach Jazz Gitti, Christina Stürmer und Stefanie Werger muss ich schon beginnen, nach Musikschaffenden zu googeln, die mich in meiner Jugend und Kindheit hätten inspirieren, ermutigen und beeinflussen können. Eine längere Recherche bestätigt mir, dass es sich hierbei nicht nur um eine subjektive Wahrnehmung handelt. Ein Wikipedia-Eintrag zu den erfolgreichsten Sänger*innen in Österreich führt 21 Männer, 4 FLINTA*-Personen und keine einzige nicht-weiße Person an. Zu den erfolgreichsten Liedermacher*innen zählen 27 Männer und 5 FLINTA*-Personen. Auch hier keine BIPoC. Preisverleihungen wie die Amadeus Awards bestätigen das strukturelle Problem: Der geringe Anteil an FLINTA*-Gewinner*innen nimmt kaum zu. Außerdem wird es höchste Zeit, dass sich die Diversität der österreichischen Musikszene nicht länger unter einer lächerlichen Kategorie («Jazz / World / Blues») zusammenstellen muss. (Der Preis in dieser Kategorie wurde 2022 übrigens an 4 weiße Männer vergeben.) Und wie ist es 2023 überhaupt noch möglich, dass Festivals mit hauptsächlich weißem, männlichen Line-Up kuratiert werden? Dass ein Neujahrskonzert schon seit 83 Jahren nur von Männern dirigiert wird und in 154 Jahren Wiener Staatsoper erst 2015 ein abendfüllendes Werk einer Komponistin (Olga Neuwirth) aufgeführt wurde, ist der beste Beweis für die verkrusteten Strukturen in Österreich.
Teufelskreise
Musikerin und Labelbetreiberin Aurora Hackl beschreibt den sich selbst fütternden Teufelskreis: Unterrepräsentanz führt zu Unterrepräsentanz. Fehlende Vorbilder sind genauso ein Grund für die fehlende Sichtbarkeit von FLINTA*-Personen wie stereotype Rollenerwartungen. Zudem ist die Musikbranche noch immer von prekären Arbeitsverhältnissen und fehlenden Strukturen für Vereinbarkeiten geprägt. Dass sexistische, queer-feindliche und rassistische Diskriminierung im Musikbusiness eine schmerzhafte Realität ist, wissen wir. Die informellen Männernetzwerke in einer stark männerdominierten Welt ermöglichen es auch, dass genau diese Männer schneller auf Bühnen kommen.
Auswege
In beiden meiner Chöre habe ich die Vision, mit unserer Musik, unseren Kostümen und unserer Performance sowohl das veraltete Chorbild ins Jetzt zu übersetzen, als auch Rollenbilder und Geschlechter-Stereotypen aufzubrechen. Chöre sind der Inbegriff von Einteilungen in ein binäres System. Dies gemeinsam aufzubrechen, braucht Konsequenz, Mut und Bereitschaft, Altbekanntes durch Neues, Freieres zu ersetzen. Wir lernen voneinander und lernen nie aus. Zentraler Motor bleibt die Community, bestehend aus vielen FLINTA*-Personen und reflektierten, feministischen Cis-Männern – sowohl queer als auch heterosexuell. Der ständige Austausch, der Zuspruch, die möglichst vielen Lebensrealitäten, die Transparenz in der Kritik und im Scheitern, der Support – all das gibt Mut weiter zu machen und immer wieder Pionierinnen*-Arbeit zu leisten.
Transparenz bezüglich Gagenverhandlungen und Berufsrealitäten gäbe uns dringend notwendiges Argumentationswerkzeug zur Hand. Lasst uns mehr FLINTA*-Banden bilden. Egal wie groß oder klein. Lasst uns Jour Fixes einführen, die sich nicht nur Michels Musikstammtisch nennen (der existiert wirklich!). Lasst uns mehr FLINTA*-Personen als Kolleg*innen wählen. Lasst die Ausrede «Ich hab keine passende FLINTA*-Person gefunden» nicht gelten. Lasst die stille Mehrheit laut werden.