Meine liebe KUPF!

David Guttner ist angekommen.

Was soll ich Dir schreiben?
Augenblicklich sitze ich am Lagerfeuer und blicke (wenn ich nicht auf das schaue, was ich Dir schreibe) hinunter ins Tal. Ich sehe: Einen großen, breiten (weil aufgestauten) Fluss von mir fort fließen, ich sehe ein letzte Ahnung von Abendrot auf einer jenseits des Flusses liegenden Bergkette, ich höre viele, viele Grillen zirpen (auch eine das Dämmern ignorierende Hummel höre ich). Das Feuer brennt schlecht und stinkt (Ob das an der harten, „teutschen“ Eiche liegt, die gerade vorrätig ist?).
Kurz nachdem Dich mein erster Brief erreicht hat, bin ich in der Außenwelt angekommen. Wie es sich gehört, habe ich sogleich begonnen mich häuslich einzurichten. Ein nicht enden wollendes Projekt, meine Liebe! Mein Haus hängt an einem Hang, einem schönen Hang, nach Südosten ausgerichtet, mit reichlich Morgen- und keiner Abendsonne. Daher habe ich mir hangaufwärts, dort wo ein Wäldlein und damit auch mein Grundstück endet, ein Bankerl zwischen Birke und Föhre gezimmert, auf der sich ganz herrlich die wärmende Abendsonne genießen lässt! Auch einen kleinen Garten habe ich begonnen mir anzulegen, man weiß ja nie…
Mein Haus liegt an einer Bruchlinie. Einer sichtbaren, und einer unsichtbaren. Die sichtbare ist geologischer Natur, da ich mich auf einem markanten Höhenrücken befinde, der, aus einer der letzten Eiszeiten stammend, das Rosige Tal und das Klagende Becken voneinander trennt. Die unsichtbare rührt daher, dass ich im Grenzbereich zweier Familien lebe, dessen Verlauf leicht übersehen werden kann (gerade von den Angehörigen dieser Familien), die mit wachen Sinnen betrachtet jedoch augenscheinlich ist. Man sieht es an der Anlage der alten Ortschaften, man schmeckt es an den leicht variierenden Speisen und Getränken, man hört es an den Liedern, die sich zwar von der Form her ähneln, jedoch anders betont und – unterschiedlichen Gemütsverfassungen entspringend – intoniert werden. Und nicht zuletzt erkennt man an den Namen der Menschen und der Ortschaften, dass hier sich Unterscheidendes über die Jahrhunderte gewachsen ist.
Leider hat die Familie aus dem Norden (der Richtung, in der das Klagende Becken liegt) mittlerweile ungleich mehr Mitglieder als die Familie im Süden (traditionell im Rosigen Tal angesiedelt). Und anders als die Namen der beiden Niederungen es vermuten lassen, haben die im Süden Lebenden allen Grund zur Klage, werden sie doch von der nördlichen Familie seit Jahr und Tag „hergetetscht“. So viel geklagt haben sie, dass ihre Stimmbänder schlaff und ihre Zungen schwer geworden sind; erst wurden sie leiser, und dann beinah stumm, und haben darüber vergessen wer sie sind, und ähneln dabei immer mehr jenen, die sie am liebsten mit dem großen, trägen (weil aufgestauten) Fluss hinfort spülen würden.

Liebe KUPF, das ist eine traurige Geschichte, und gerne würde ich Dir Fröhlicheres berichten, doch allzu oft kreisen meine Gedanken um diesen Familienkonflikt. Das nächste Mal aber Schöneres, versprochen! Ich hoffe Dir geht es der Jahreszeit entsprechend, es drückt und umarmt Dich
Dein Onkel Gutz!

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