Würde es zu sehr der Norm entsprechen, dieses Editorial mit “Liebe Leser*innen” zu beginnen?

Die direkte Ansprache vermittelt das Gefühl des Bekannten. Meist folgt darauf eine persönliche Einleitung zum Schwerpunktthema. Diese kann Identifikationsmöglichkeiten schaffen, Vertrauen aufbauen und die Authentizität stärken. Doch das alles dient nicht nur als „Marketing-Trick“, sondern hilft auch, abstrakte Themen – wie dieses Mal „Normen“ – greifbarer zu machen.

Ein Editorial ist kein möglichst neutraler, wissenschaftlicher Text, sondern darf Meinungen und persönliche Erfahrungen zeigen. Es soll informieren und einen ersten Überblick bieten. 36 Seiten Inhalt in 2.200 Zeichen (eine weitere Norm) unterzubringen, ist für mich oftmals eine Herausforderung. Meist beginne ich damit, zu überlegen, welche Artikel die verschiedenen Perspektiven des Themas der Ausgabe am besten aufgreifen. 

In dieser Ausgabe gehen wir zum Beispiel den Fragen „Was bedeutet normal?” und “Warum ist die Vorstellung des Normalen so wichtig für uns?” mit Michaela Hintermeyrs Überlegungen auf den Grund (S. 20), während Yvonne Gimpels Beitrag die Notwendigkeit beleuchtet, Normen mit einem Kultur-Kollektivvertrag zu setzen (S. 5). Susi Hinterberger beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen und moralischen Norm der „gestatteten Ignoranz“ (S. 17).

Und während ich dieses Editorial schreibe, hake ich Stück für Stück die Normen ab, denenein Editorial entsprechen sollte. Direkte Ansprache? Erledigt! Persönlicher Bezug – hast du ihn bemerkt? Eine Auflistung der Artikel, die einen ersten Einblick geben – hast du Lust auf diese Ausgabe bekommen? 

Obwohl mein Ziel war, aufzuzeigen, wie viele Normen ein Editorial mit sich bringt, habe ich auch aktiv versucht, die Normen, die du hier von uns gewohnt bist, zu brechen. Als Ansprache habe ich etwa „du“ statt „Sie“ gewählt und im vorherigen Absatz die „vierte Wand“ durchbrochen. V.a. in Film und Theater verwendet man diesen Begriff, wenn die Grenze des beobachtenden Blickes aufgelöst wird, etwa indem Schauspieler*innen direkt in die Kamera sprechen oder Publikum und Leser*innen direkt angesprochen werden und man aufhört so zu tun, als befände man sich abgeschottet auf einer Bühne.
Das Normale, Gute und Schlechte an Normen ist nämlich, sie sind nur so lange unsichtbar, wie wir sie nicht hinterfragen.

Daher bleib kritisch und neugierig!
Ella Kronberger

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