Geschichte sein

Ein Dramolett von Tamara Imlinger in zwei Akten.

Akt 1 – Die Mahnwache

Lara und Alex haben Teelichter abgestellt, sind bei einer Kundgebung für Frieden in der Ukraine.

Alex: Hatten deine Eltern auch Russisch in der Schule?

Lara: Ja, voll, ich habe ein paar Wörter auf Ukrainisch herausgesucht und sie haben mir mit der Aussprache geholfen.

Alex: Sag mal was. 

Lara: Was brauchst du? heißt: Що тобі потрібно? [Schtscho tobi potribno?].

Alex: Cool!

Lara: Wenn du magst, erzähl mir, was für dich gerade schwierig ist heißt: Якщо хочеш, розкажи, як тобі зараз важко [Yakschtscho chotschesch, roskaschi, yak tobi saras waschko.]

Alex: Kannst du mir das als Sprachmemo schicken?

Lara: Warte mal, ist das nicht eigentlich rassistisch?

Alex: Stimmt, man könnte es auch auf Englisch oder Deutsch versuchen.

Lara: Es sind ja auch Menschen dabei, die andere Erstsprachen als Ukrainisch haben.

Alex: Und wir verstehen sowieso nichts.

Eine Person kommt auf Lara und Alex zu.

Maria: Hallo, ich bin Maria. Nächste Woche wird wieder eine Kundgebung sein. Wollt ihr einen kleinen Beitrag machen?

Lara: Vielleicht –

Eine andere Jugendliche, die etwas abseits gestanden ist, kommt dazu.

Jugendliche: Danke, dass Sie das organisieren!

Maria: Danke, dass du hier bist!

Jugendliche: Meine Großtante lebt in der Nähe von Lwiw.

Maria: Magst du eine Rede halten?

Jugendliche: Ich weiß nicht –

Maria: Und besitzt du eine Ukraine-Fahne?

Jugendliche: (zieht die Stirn nach oben) Nein.

Maria: Kennst du vielleicht jemanden?

Lara: (zur Jugendlichen) Wir könnten gemeinsam einen Beitrag machen.

Jugendliche: Ja?

Alex: Wie heißt du denn?

Jugendliche: Diana.

Akt 2 – Die Wanderung

Diana, Lara und Alex packen am Gipfel des Almkogels Jausenboxen aus, essen.

Lara: (atmet hörbar aus) Ich weiß noch immer nicht, wie ich damit umgehen soll.

Diana: Auf jeden Fall wird gerade deutlich, dass Frieden bei uns nicht selbstverständlich ist.

Alex: (mit Brot im Mund) Und alles nur wegen dem Wahnsinnigen!

Lara: Sag das bitte nicht so, damit setzt du Menschen mit psychischen Erkrankungen mit Diktator*innen gleich.

Alex: (schluckt) Okay, verstehe. Aber da lebt doch nur wieder einer Machtphantasien aus.

Diana: Eine Person allein ergibt auch noch keinen Krieg.

Alex: Man könnte auch nicht mitmachen.

Diana: Desertieren.

Lara: (schaut in die Ferne) Keine Waffen finanzieren.

Alex: Kapitulieren und es dann diplomatisch versuchen.

Diana: (will gerade abbeißen) Man hätte auch schon früher etwas tun können.

Alex: Aber für die eigene Sicherheit nimmt man einiges in Kauf.

Zwei Personen kommen am Gipfel an, sprechen in oberösterreichischem Dialekt über das Zerkleinern von Gemüse, setzen sich ein Stück entfernt. Alex, Diana und Lara essen auf, packen die Jausenboxen ein.

Diana: Danke, dass ihr nicht nach meiner Geschichte fragt.

Alex: Klar.

Diana: (zieht Handschuhe an) Sicher bin ich betroffen – als Mensch, nicht als “Ukrainerin“.

Alex: Ich würde auch nicht nach einer Österreich-Fahne gefragt werden wollen.

Lara: Möchtest du, dass wir über so etwas bei der Kundgebung sprechen?

Diana: (greift zu einer Stelle, an der eine kleine Menge Schnee liegt) Vielleicht können wir irgendwie anregen, darüber nachzudenken.

Lara: Was es bedeutet, aus der Geschichte zu lernen.

Alex: Nationalstaaten erwähnen.

Lara: Auch den Nationalsozialismus.

Diana: (formt einen Schneeball) Und das Patriarchat.

Alex: Antisemitismus.

Lara: Wartet – wenn wir die ganzen Schlagworte verwenden, bringen wir sicher niemanden zum Nachdenken.

Diana: (knetet den Schneeball) Ja, die sind wie eine Mauer.

Lara: Wir müssen irgendwie zeigen –

Diana: Dass ein bisschen schön reden nicht reicht.

Alex: Sprechen wir doch genau über diese Sicherheit, die uns Schlagworte geben.

Diana: (wirft den Ball) Auch Solidarität –

Lara: (streckt sich, fängt den Ball nicht, lacht) Genau: Was meinen wir damit?

Alex: Und was hat das alles mit uns zu tun?

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