Schwimmen lernen

Sibylle Hamann über jene Lektionen, die sie in zwei Jahren Regierungspolitik gelernt hat.

Ich komme aus dem Journalismus. Beinahe 30 Jahre lang habe ich Gesellschaft und Politik beobachtet, analysiert, kommentiert. Unzählige Male habe ich in dieser Zeit gute Ratschläge und Aufträge an „die Politik“ erteilt. Was bei solchen Aufforderungen stets mitschwang: Ich wüsste ziemlich genau, wie es geht. Wenn man mich bloß endlich machen ließe.

Seit zweieinhalb Jahren bin ich selbst in der Politik tätig. Über Nacht habe ich die Seite gewechselt, einen neuen Beruf lernen müssen. Was ich dabei gelernt habe? Ziemlich viel. Hier eine vorläufige Liste.

  1. Ich habe gelernt, dass Politik kompliziert ist. Sie spielt auf vielen Spielfeldern gleichzeitig, und auf jedem gelten andere Regeln. Es gibt das Parlament und die Debatten dort. Hinter den Kulissen gibt es die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner. Parallel dazu muss man sich im jeweiligen Fachgebiet auf den aktuellen Stand bringen, und kontinuierlich Kontakt in die Praxis halten: Netzwerken mit NGOs, Expert*innen, Interessenvertretungen; Schulen, Kindergärten und Veranstaltungen besuchen, diskutieren. Dazu kommt die öffentliche Kommunikation und Social Media. Auf allen Ebenen muss man eine Balance finden zwischen Überzeugungen und Taktik, zwischen PR und Kompromiss, zwischen Konflikt und Beziehungsarbeit.
  2. Ich habe gelernt, dass Politik Zeit braucht. Von der Idee bis zur konkreten Umsetzung eines politischen Vorhabens ist es ein langer, hindernisreicher Weg. Anders als manche vermuten, stimmt das Parlament nicht „einfach so“ über ein politisches Vorhaben ab. Jedes Gesetz ist das Ergebnis langwieriger Verhandlungen und Begutachtungsprozesse, bei denen viele Interessen formuliert und auf vielen Ebenen Einfluss genommen wird. Dazu kommt, dass sich die Wirkung vieler Beschlüsse erst in ferner Zukunft zeigen wird. Gerade in der Bildungspolitik mahlen die Mühlen langsam: Was heute in der Pädagog*innenausbildung gelehrt wird, kommt in der schulischen Praxis erst an, wenn die übernächste Bundesregierung im Amt ist.
  3. Ich habe gelernt, wie oberflächlich politische Kommunikation ist. So kompliziert die Materie auch sein mag, in Medien haben nur einfache, klare Botschaften eine Chance, verstanden zu werden. Viel wichtiger als die Inhalte ist die Person, die sie erklärt und präsentiert. Gefällt mir der Kanzler? Finde ich die Minister*innen glaubwürdig? Sind sie mir sympathisch? Traue ich ihnen zu, sich durchzusetzen, Interessen glaubwürdig zu vertreten? Die Antworten auf diese Fragen entscheiden am Ende über Erfolg oder Misserfolg. Denn gewählt wird man nicht von Expert*innen, Zeitungskommentator*innen und Politik-Insidern. Sondern von der breiten Bevölkerung, die sich nur sporadisch mit Politik beschäftigt, und tausenderlei Alltagssorgen hat.
  4. Ich habe gelernt, dass Politik keine Zwischentöne verträgt. Dieser Punkt macht mir besonders zu schaffen: Als Journalistin war ich stets auf der Suche nach der ungewohnten Fragestellung. Ich sollte Erwartungshaltungen stören, irritieren, hinterfragen, zweifeln, überraschen. Als Politiker*in darf ich nichts von alldem. Hier funktionieren nur Eindeutigkeit und Wiederholung. Scherze, Ironie, eine flapsige Bemerkung, eine originelle Formulierung – all das ist streng verboten, denn all das kann missverstanden werden. Und bei Politiker*innen lauert hinter jeder Ecke jemand, der nur darauf wartet, mich absichtlich misszuverstehen.
  5. Ich habe gelernt, dass Politik eine dicke Haut braucht. Nein, man darf nicht beleidigt sein. Nichts persönlich nehmen. Muss Beschimpfungen abperlen lassen. Immer freundlich bleiben, immer zuhören, immer ernstnehmen, immer antworten. Das gehört zum Job: Menschen haben mich gewählt, damit ich ihnen zur Verfügung stehe. Damit ich ihre Wünsche und Erwartungen schultere, ihre Frustrationen einstecke, als Blitzableiter diene. Und ich bin ihnen jeden Tag Rechenschaft schuldig.

Nein, ein einfacher Job ist die Politik nicht. Anfangs musste ich strampeln, um über Wasser zu bleiben. Aber ich bin nicht untergegangen – sondern habe schwimmen gelernt.

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