Tankstelle für Utopien

Einen Brief vom World Social Forum schickte Rubia Salgado .

 

Da ich glaube, dass dieses Thema auch andere Menschen interessieren könnte, beschloss ich, diesen Brief zu veröffentlichen, denn auch hier sind die Verantwortlichen der Meinung, dies wäre für die KUPF-Zeitung von Interesse, d. h. auch die LeserInnen würden sich für das Thema interessieren.

Oder: Das Ereignis World Social Forum birgt Entfaltungsmöglichkeiten in sich, die auch für Menschen, die im autonomen Kulturbereich tätig sind, wichtig sein könnten.Deswegen veröffentliche ich diesen Brief in einer kulturpolitischen Zeitung und eröffne allen, die ihn lesen werden, das Innere meiner Erinnerungen.

Meine Liebste, es ist schon zwei Monate her dass ich beim World Social Forum gewesen bin und ich schulde dir immer noch die versprochene Erzählung über das, was ich dort erlebt und gesehen habe. Als erstes möchte ich über die Gründe und Motivation für meine Teilnahme am Forum sprechen. Ich weiß, dass du es weißt, aber die anderen, meine Liebste, die jetzt auch Adressaten dieses Briefes geworden sind, wissen es nicht. Darum wird vieles für dich redundant klingen, denke aber bitte an die dazugekommenen LeserInnen und habe Geduld. Die Wege werden etwas breiter werden, die Kurven weniger scharf als sonst, aber anderes wäre jetzt nicht möglich und du musst dich mit der Tatsache eines öffentlichen Briefes abfinden.

Zurück: Ich bin gefahren, weil die IG Kultur Österreich beschlossen hat, eine Delegierte zu entsenden und somit die Prozesse, die im Rahmen des Forums stattfinden, zu begleiten. Diese Entscheidung seitens der IG Kultur bezog sich auf die Erkenntnis der Notwendigkeit, sich aktiv an einem Prozess zu beteiligen, der wichtige kulturpolitische Themen in die Beziehung zwischen Makro- und Mikroebenen platziert, Auseinandersetzungen fördert und nach Alternativen und Antworten auf die Herausforderungen des Neoliberalismus sucht. Selbstverständlich hat meine brasilianische Herkunft eine entscheidende Rolle bei der Auswahl gespielt. Es ist bereits bekannt, dass eineR ohne Portugiesisch- oder Spanisch- Kenntnissen beim Social Forum in Brasilien wenige Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der aktiven Partizipation hat, denn die meisten TeilnehmerInnen kommen aus Lateinamerika und daher werden auch die meisten Veranstaltungen in diesen beiden Sprachen abgewickelt. Wie wir bereits am europäischen Kontinent feststellen könnten, sind viele hier darüber verärgert, ohne es direkt auszusprechen, denn es wäre politisch nicht korrekt. Aber ich denke mir, Portugiesisch und Spanisch sind doch europäische Sprachen … Aber never mind the Bossa Nova: Das nächste World Social Forum will take place in Indien!

Ich war glühend neugierig, wie ich bereits unmittelbar nach meiner Ankunft in einer Ankündigung auf diesen Bericht in dieser Zeitung geschrieben habe. Ja, glühend neugierig und sehnsüchtig: die Sehnsucht auf Hoffnung. Ja, so ist es meine Liebste, ich wollte der Hoffnung wieder begegnen. Ich wollte mich unter Menschen befinden, die von Utopien bewegt handeln. Menschen, die sich weigern, der Resignation ausgeliefert zu werden. Menschen, die sich empören und handeln. Menschen, die daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Und du weißt, wie sehr ich darunter leide, weil ich oft mit Menschen zu tun habe, deren utopischer Horizont aus Samstagseinkaufsausflügen besteht. Und Brasilien bot den idealen Boden für alle, die sich nach Utopien gesehnt haben: Lula (der Kandidat der ArbeiterInnenpartei) hatte vor drei Monaten die Präsidentenwahl gewonnen und auf allen Gesichtern und Grafittis und Aufklebern war zu lesen: „Die Hoffnung hat die Angst besiegt“! Lateinamerika erfährt eine Welle der Hoffnung, hast du mir auch gesagt, und von vielen anderen hörte und höre ich es. Erinnerst du dich an den Text von Günther Hopfgartner in der Zeitschrift Malmoe von Jänner dieses Jahres? Ja, ich wollte, ich sehnte mich nach der Hoffnung, ich wollte Utopien tanken! Und das, meine Liebste, ist mir teilweise gelungen … Aber noch bevor ich über unerfreuliche Erfahrungen zu erzählen beginne, möchte ich doch betonen, dass ich trotzdem überzeugt bin, dass der vom Forum verkörperte Prozess sinnvoll und notwendig ist. Es handelt sich um einen Prozess, der aufgrund seiner Dimensionen und Tiefen nur zu unterstützen und mitzugestalten ist!

Das World Social Forum bildet das wichtigste Ereignis der Welt zur Vernetzung und zum Austausch zwischen Bewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft, und ermöglicht in diesem Sinn den Entwurf von Strategien zur Konstruktion von konkreten Alternativen für andere möglichen Welten. Übrigens: Aktionsvorschläge, Strategien, Beschlüsse und verschiedene Dokumente und Manifeste, die im Rahmen der Workshops, Seminare und sonstigen Aktivitäten präsentiert und entwickelt wurden, wurden gesammelt und systematisiert und werden demnächst auf der Homepage des World Social Forum zu lesen sein. Jetzt, da ich versuche dir über die Relevanz und Wichtigkeit dieser Bewegung zu erzählen, erinnere ich mich an Statements zum Forum, die von zwei sehr bekannten Menschen gemacht wurden: „I am not going to try to answer the question posed for this meeting: How to confront the empire. The reason is that most of you know the answers as well or better than I do, through your own lives and work. The way to „confront the empire“ is to create a different world, one that is not based on violence and subjugation, hate and fear. That is why we are here, and the WSF offers hope that these are not idle dreams.“ Die zweite Aussage, die ich hier erwähnen möchte, stammt aus der Rede von Eduardo Galeano bei der Konferenz zum Thema „Peace and Values“. Hier betont er die Notwendigkeit, Schritte aus dem Ich in Richtung auf das Wir zu setzen und behauptet, dass deswegen das Forum entstanden und gewachsen ist: um zu sagen wir, wir, wir. Oder wie es in Chiapas heißt: tik,tik,tik. „Para eso ha nacido y crecido este Foro Social Mundial, en la ciudad de Porto Alegre, modelo universal de la democracia participativa: para decir nosotros. Tik, tik, tik.“

Es klingt fast unglaublich, und ich kann es verstehen, wenn du sagst, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, wie es bei so einer Megaveranstaltung ist: 1286 Workshops, 114 Seminare , 36 Panels, 10 Konferenzen, 22 Testimonies und 4 Round Table-Diskussionen, die von ca. 100.000 Menschen besucht wurden. Diese Menschen verstehen sich als ProtagonistInnen, als handelnde Subjekte, die geprägt von Ungehorsam und Verantwortung, sich mit der Kraft ihrer Körper und der Hitze ihrer Herzen im Kampf für soziale Gerechtigkeit und Freiheit engagieren. Sich unter einer solchen Menge von Menschen zu befinden, die jubelnd ihre Bereitschaft zum Aufbau einer besseren Welt demonstrieren, ist zweifelsohne eine prägnante Erfahrung. Die Statements bei den großen Veranstaltungen wurden alle in einer sehr packenden Art vorgetragen und von Beifall und gesungenen Slogans unterbrochen. Es ging um Empörung gegenüber dem bevorstehenden Krieg und um Aufrufe zur Mobilisation dagegen, um Friedensapelle, um emotionelle Aussagen bezüglich der politischen Ereignissen in Brasilien, die von allen Vortragenden als ein Zeichen für die ganze Welt gesehen wurden: Es ist möglich, dass die Angst von der Hoffnung besiegt wird. Und es ging hauptsächlich um die Unterstreichung des Mottos des Forums: Eine andere Welt ist möglich.

So sehr auch ich von der packenden Stimmung im Stadion, wo die Konferenzen abgehalten wurden (und auch in anderen Situationen, wie z. B. als der Präsident Lula vor eine enormen Menge gesprochen hatte) mitgerissen wurde, war ich eigentlich sehr irritiert und beeindruckt von den so klar feststellbaren populistischen Züge dieser Veranstaltungen und überhaupt von den innenpolitischen Entwicklungen in Brasilien. Wie ich oben erwähnte, war Lula im Forum noch bevor er nach Davos geflogen war. Seine Rede war noch im Format geschmiedet, welches während der Wahlkampagne adaptiert wurde und seine Aussage, er würde die Interessen des Forums in Davos vertreten, hat unter anderen Reaktionen und Aktionen auch die Gruppe „BäckerInnen ohne Grenzen“ dazu veranlasst, dem Präsidenten der Arbeiter-Partei während einer Pressekonferenz im Sheraton Hotel (!) eine Torte ins Gesicht zu werfen. In einem „Bekenntnisbrief“ erklärten die grenzenlosen BäckerInnen: „Unsere Bewegung hat weder FührerInnen noch RepräsentantInnen. Niemand kann in unserem Namen sprechen. (…) Die Hoffnung nach Veränderungen kann nicht wieder von den PolitikerInnen und Parteien kooptiert und frustriert werden.“

Ja, meine Liebste, ich habe bereits erwähnt, dass meine Sehnsüchte nur teilweise gestillt wurden … Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gern ich es verdrängt hätte – aber es war unverdrängbar. Ich habe zum Beispiel erwartet, dass im Rahmen von Workshops und Seminaren Diskussionen stattfinden, und das habe ich leider kaum erlebt. Ich war auch sehr irritiert über das Format der Konferenzen, welche ausschließlich Projektionsraum für Weltstars angeboten haben und dem Publikum die Rolle von begeisterten ZuschauerInnen zugeschrieben haben. Weiters war ich – und viele andere TeilnehmerInnen! – über das offizielle Kulturprogramm tief enttäuscht. Erinnerst du dich an den bekannten brasilianischen Popsänger und Komponist Jorge Ben Jor? Ja, er und alle anderen bekannten MusikerInnen (in der überwiegenden Mehrheit Männer), haben sich nicht die Mühe gemacht, Kommentare oder irgendwelche inhaltlichen Statements zu der Veranstaltung zu machen. Es war nicht zu merken, dass sie vor einem Publikum im Rahmen einer politischen Veranstaltung aufgetreten wären. Jorge Ben Jor hat sich noch die Anmaßung erlaubt, sich sein sexistisches Verhalten auszuleben und zehn „appetitliche“ Frauen aus dem Publikum auf die Bühne zu holen, um die „appetitlichste“ darunter auswählen zu lassen. Und das Publikum hat mitgemacht … Um welche Art von Paradoxen handelt es sich hier, meine Liebste? Ebenfalls problematisch fand ich die Tatsache, dass es nicht möglich war – wie die OrganisatorInnen bekannt gegeben haben – ein Seminar zum Thema sexuelle Diversität außerhalb des Kulturprogramms durchzuführen. Problematisch aber gleichzeitig aufbauend: immerhin: hier – im Kulturbereich – waren die Menschen sensibilisiert für das Thema und es wurde ein Raum dafür geschaffen. Aber skandalös, wenn wir denken, dass im World Social Forum ein Seminar zu einem solchen Themenbereich ausschließlich im Rahmen des Kulturprogramms durchführbar ist!

Es gebe noch viel zu erzählen… vielleicht gelingt es uns, uns Zeit dafür zu nehmen … Ich möchte dir zum Beispiel über die Stadt Porto Alegre und ihr Modell der partizipativen Demokratie erzählen, über die Kulturprojekte, die in der Stadt durchgeführt werden, hier gibt es sehr interessante Ansätze zur Dezentralisation der Kultur. Wer weiß, vielleicht schreibe ich dir wieder einen Brief…

Und es gibt noch viel zu tun, denn trotz allem finde ich, finden wir hier in der Kupf, dass es doch notwendig und sinnvoll ist, den „Raum“ Social Forum mitzugestalten und somit unseren Beitrag zur Entwicklung von Alternativen und Strategien als Antworten auf die neoliberale Marktlogik zu leisten. Übrigens: die Kupf wird gemeinsam mit Kulturinitiativen aus Oberösterreich, die grenzübergreifende Kulturarbeit machen, ein Seminar beim Austrian Social Forum realisieren. Das Thema wird sein: Partizipation und Intervention anhand der Kulturarbeit von und mit MigrantInnen in OÖ. Das Austrian Social Forum wird von 29. Mai bis 1. Juni in Hallein bei Salzburg stattfinden, Infos findest du im Web. Also, vielleicht hast du Lust mitzuwirken. Falls du noch mehr darüber wissen willst, melde dich doch!

Liebe Grüße,

Rubia Salgado

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