Aufforderung zur Nichtproklamation

Die Grundrechtscharta der EU oder: Der verlotterte Zustand der europäischen Wertediskussion

von Kulturpolitische Kommission

Die österreichischen Interessen- und Berufsverbände der Kunst und Kultur sind erschüttert vom Ergebnis der Beratungen der EU zur Grundrechtscharta, die einerseits weit hinter den erreichten und einklagbaren Standards der Menschenrechtskonvention aus dem Jahre 1958 zurückbleibt und die sich andererseits zu aktuellen gesellschaftpolitischen Entwicklungen ausschweigt. In Fragen der Kunst, Medien, Wissenschaft und Kultur spiegelt sie überhaupt nur Rat- und Ahnungslosigkeit wider. Die schon zuvor knapp gehaltenen Grundsatzäußerungen in diesen Bereichen wurden im aktuellen Entwurf auf einige wenige lieb- und funktionslose Sätze reduziert: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.“ (Art. 13) „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“ (Art. 11/2). Gewährleistet wird somit also nichts, ja nicht einmal mehr die – in den nationalstaatlichen Grundrechten verankerte – Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und die innere und äußere Medienfreiheit. Daran ändern auch die Generalpostulate – „Geistiges Eigentum wird geschützt.“ (Art 17/2) und „die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ (Art. 22) – wenig. Was beim Zustandekommen dieses Ergebnisses besonders auffällt, ist der Alleingang der Gremien der EU ohne strukturierte und transparente Diskussion mit den nationalen und internationalen nicht-staatlichen Stellen und Einrichtungen bzw. keinerlei Beantwortung und Beachtung der vorgetragenen Einwände und Korrekturvorschläge im überarbeiteten vorliegenden Entwurf. Umgekehrt scheinen einzelne Europaparlamentarier die Grundrechtscharta der EU soweit durchlöchert zu haben, dass nicht einmal mehr von einem Grundgerüst einer Grundrechtscharta die Rede sein kann. Wieder einmal herrscht in Österreich, so wie immer, wenn es um Grundrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und um die Vision eines humanen Europa geht, Grabesstille. Weder haben wir die österreichische Außenministerin vor laufenden Kameras zu dieser Frage lächeln gesehen, noch haben wir den österreichishen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel dazu schweigen gehört oder hat die burgenländische FPÖ mit Unterstützung Jörg Haiders zu einem Volksbegehren oder einer Volksabstimmung aufgefordert. Und die Opposition hat sich wieder einmal viel zu spät auf das längst zusammenbrechende Pferd aufgeschwungen, um ihm mit den Sporen den letzten Rest zu geben. Unklar ist und und bleibt die Verbindlichkeit der Grundrechtscharta sowieso. Nur als Bestandteil des EU-Vertrages könnte die Umsetzung der Grundrechtscharta garantiert und deren Einhaltung eingefordert werden. Das ist derzeit nicht in Aussicht. Es soll ganz offenbar die Möglichkeit geschaffen werden, jederzeit gegen die Interessen dieser ohnehin schwachen Grundrechtscharta verstoßen zu können und dennoch vollwertiges Mitglied der EU zu bleiben bzw. zu werden. Wir fordern die Entscheidungsträger/Innen und insbesondere die österreichischen Vertreter/Innen in der EU dazu auf, diese Charta in dieser Form nicht zu akzeptieren, sondern die Beratungen darüber unter Einbeziehung der nationalen und internationalen nicht-staatlichen Stellen und Einrichtungen erneut darüber aufzunehmen. Wir erwarten uns daher, dass weder das Plenum des Europäischen Parlaments Mitte nächster Woche noch der Europäische Rat in Nizza am 15.12. versucht, ein Papier auf derartigem Niveau als „Grundrechtscharta“ zu proklamieren und anstelle dessen endlich eine ernsthafte Diskussion mit den nicht-staatlichen Stellen und Einrichtungen über deren Einwände beginnt.

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