Zerstört TikTok unsere politische Kultur?

Je öfter wir etwas sehen, desto eher halten wir es für wahr. Gleichzeitig sind Soziale Medien vor allem für junge Menschen zu einer wichtigen Nachrichtenquelle geworden. Für Österreicher*innen zwischen 18 und 24 Jahren sogar noch wichtiger als Fernsehnachrichten. Sind Views und Likes der neue Weg zur politischen Macht?

Politiker*innen auf TikTok
Erst kürzlich schockten die Ergebnisse der Europawahl: wie kann es sein, dass gerade die rechten Parteien, wie die Alternative für Deutschland (AfD) bei den jüngeren Wähler*innen so beliebt war? Expert*innen mutmaßten, dass das auch mit dem großen Erfolg der Partei auf TikTok zusammenhängen könnte. Das ist eine Unterhaltungsplattform für Kurzvideos und mit Millionen von Nutzer*innen weltweit. Diese verbringen durchschnittlich 75 Minuten täglich auf der Plattform und können Videos schauen, teilen oder selbst erstellen. Die AfD war eine der ersten Parteien, die TikTok früh genutzt und auch ernstgenommen haben. Mit Erfolg: insgesamt erreicht sie auf der Plattform mehr als dreimal so viele potenzielle Wähler*innen, wie alle anderen deutschen Parteien zusammen. Hinzu kommt, dass Nutzer*innen, die sich entweder als „sehr rechts“ oder „sehr links“ bezeichnen würden, Soziale Medien häufiger verwenden. Ganz besonders gilt das für Menschen, die sich der extremen Rechten zuordnen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich wollen Politiker*innen mit TikTok junge Wähler*innen für sich begeistern. Mit über 160.000 hat Sepp Schellhorn von den NEOS die größte Follower*innenzahl, das liegt wahrscheinlich aber vor allem an seinen Kochvideos. Gleich dahinter FPÖ-Obmann Herbert Kickl mit etwa 75.000 Follower*innen auf TikTok. Er zeigt sich, wie er die Österreichfahne schwenkt oder bei Veranstaltungen ins Mikrofon spricht. Platz drei belegt NEOS-Jungpolitiker Yannik Shetty, der auch viel zur LGBTQIA+-Community spricht, ihm folgen 52.000 Menschen. Und ÖVP-Ministerin Karoline Edtstadler nimmt 24.000 Follower*innen in ihren Alltag mit. Im Vergleich dazu hat Kanzler Karl Nehammer von der ÖVP nur 7.700 Follower*innen.

Warum ist politischer Content in den Sozialen Medien so erfolgreich? 
Videos haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten und mit dem Aufkommen von Facebook, Instagram, TikTok und Co. zu dem wirkungsmächtigsten Medium überhaupt entwickelt. Denn sie bestehen aus Bildern und Bewegung und sind deshalb besonders ansprechend für unser Gehirn. Diese Kombination erlaubt es, dass wir Informationen schneller verstehen und besser behalten können als zum Beispiel bei Texten. Kommen dazu noch Emotionen, dann ergibt sich eine starke Bindung zu den Inhalten und den Marken oder Parteien, welche die Videos verbreiten. Früher waren vor allem Journalist*innen dafür verantwortlich, Kriegsbilder und -informationen zu sammeln und zu entscheiden, welche veröffentlicht werden. Sie fungierten als sogenannte Gatekeeper, die eine Vorauswahl trafen und bestimmten mit Sorgfalt und nach ethischen Kriterien, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangten. Heute jedoch gelangen solche Eindrücke nahezu ungefiltert auf der ForYou-Page von TikTok, der individuellen Startseite der Nutzer*innen. Jede*r kann demnach alles hochladen und verbreiten, ganz egal ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Komplexe Themen werden simplifiziert und die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verschoben. Im Gegensatz zu anderen sozialen Netzwerken, wo die angezeigten Inhalte darauf basieren, welchen Personen man folgt, werden auf TikTok Videos angezeigt, die der Algorithmus als spannend und für die Nutzer*innen interessant einstuft. Die genauen Kriterien, nach denen dieser die Videos auswählt, bleiben dabei unklar.

Deep Fakes
Ein weiteres Problem sind die sogenannten „Deep Fakes“. Der Begriff setzt sich aus den Wörtern ‘Deep learning’ und ‘Fake’ zusammen, also eine Mischung aus ‘automatisiertes Lernen’ und ‘Fälschung’. Gemeint sind damit verschiedenste Arten von Medien, wie Videos, Audio oder Fotos, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz erstellt oder manipuliert wurden. Schon lange wird vermutet, dass diese Technologien genutzt werden, um Wahlen zu manipulieren und sogar Demokratien und Gesellschaften zu destabilisieren. Ein bekanntes Deep Fake ist ein Video einer Politikerin aus Bangladesch, die darauf in einem Bikini zu sehen war. Die Frau gehörte der Oppositionspartei an und das Video führte in dem mehrheitlich konservativ-muslimischen Land zur Empörung. Und vor den Präsidentschaftswahlen 2023 in der Slowakei wurden Audiobotschaften veröffentlicht, in denen eine gefälschte Stimme des progressiven Kandidaten Michal Šimečka behauptet, er wolle die Wahl manipulieren. In dem „Gespräch“ sagte die Stimme auch, dass sie beabsichtige, den Bierpreis im Land zu verdoppeln. Er verlor gegen seinen Konkurrenten. Ob der Deep Fake den Wahlausgang beeinflusst hat, bleibt jedoch unklar.

#reclaimtiktok, Wählen gehen und Faktenchecks
Seit März 2024 gibt es eine Bewegung auf TikTok, die gezielt gegen Desinformation und Hetze vorgehen will. Unter dem Hashtag #reclaimtiktok versuchen bekanntere und unbekanntere TikTok-Nutzer*innen, Videos mit Falschinformationen richtigzustellen und die Menschen zu motivieren, wählen zu gehen. In einem Video spricht ein junger Klimaaktivist in die Kamera und fordert die junge Generation auf zu handeln: „Gerade bekommen hier auf TikTok unsere Geschwister diesen ganzen Müll der AfD zu sehen (…) auch wenn TikTok gerade kein schöner Ort ist, lasst ihn uns zusammen zu einem schönen Ort machen. Zu einem Ort, an dem junge Menschen zum Wählen gebracht werden, an dem demokratische Werte vermittelt werden, an dem man zu Engagement inspiriert wird.“ Andere Nutzer*innen erstellen selbst Videos, in denen sie Falschaussaugen einzelner Politiker*innen mit einem Faktencheck richtigstellen. Mittlerweile finden sich mehr als 49.000 Videos unter diesem Hashtag.

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