Die Bergung der Gefühle

Corinna Antelmann über Literatur als Zugang zum Unbewussten.

Kommendes vorwegnehmen. Vergangenes beschreiben. Bekanntes neu zusammenfügen oder das Unbekannte hervorholen: Stets öffnet die Literatur eine Tür, die uns Einblicke in das Denken und Fühlen anderer gewährt.

Der Schlüssel zum Tor des Unbewussten

Die Schriftstellerin Christa Wolf hat einmal gesagt, für sie sei das Schreiben immer mehr der Schlüssel zu dem Tor geworden, hinter dem die unerschöpflichen Bereiche ihres Unbewussten verwahrt seien. Ihr schriftstellerisches Schaffen führt zu einer Selbstbefragung, die hilft, verdrängte Gefühle zu befreien. Es lässt erfahren, was zuvor nicht bewusst wahrgenommen werden konnte. 

Im Schreiben werden innere Widerstände gemindert, die Menschen gewöhnlich verspüren, wenn sie Geheimnisse preisgeben sollen. Es wird somit zu einem wirksamen Weg, den oben erwähnten „Schlüssel zum Tor des Unbewussten” zu nutzen und sich einen Zugang zu den eigenen verschütteten Anteilen zu verschaffen: schreibend UND lesend. Das funktioniert durch den formalen und ästhetischen Gewinn, den das Schaffen und das Genießen von Kunst uns bereitet, und ohne den auch Literatur nicht denkbar wäre.

Die Betrachtung der unbewussten Bereiche führt immer auch zu einer differenzierteren Betrachtung der Welt und damit zu Erkenntnis. Im Zurückgedrängten lässt sich die Perversion von Systemen entdecken. Sowohl im Patriarchat als auch im Kapitalismus geht es um die Selektion der „nützlichen“ Kräfte und Strebungen eines Menschen auf Kosten seiner „unnützen“ Bedürfnisse und Wünsche.  Bedürfnisse und Wünsche werden abgespalten und landen im Verschwiegenen, das gewöhnlich keine Sprache findet.

Der Ansatz, sich dem eigenen Unbewussten zu widmen, steht somit der Überbetonung des Materiellen entgegen, die Teil unserer marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaften ist, jedoch alle anderen Aspekte des menschlichen Daseins vergisst.

Dieser Verarmung des Empfindens und Begreifens von Welt kann Literatur entgegenwirken. 

Romantische Literatur und Psychoanalyse

Auch die deutschen Romantiker*innen machen Anfang des 19. Jahrhunderts auf Widersprüche und Unbekanntes aufmerksam – entgegen der empirischen Weltsicht des aufgeklärten Menschen, der das 18. Jahrhundert prägt. In ihre Literatur fließen Elemente von Mythos, Poesie und Traum zurück, der Überzeugung folgend, dass es eine in den Tiefen des Menschen selbst liegende Wirklichkeit zu entdecken gibt. Das Fremde wird als ein dem Menschen Eigenes in ihm selbst lokalisiert. 

Die Romantiker*innen verleihen der menschlichen Zerrissenheit in ihren Held*innen ästhetisch Ausdruck, zum Beispiel in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. So führt die Erforschung des Subjektempfindens schließlich zu der Annahme eines Unbewussten durch Freud. Überhaupt wäre die Psychoanalyse ohne Dichtung kaum denkbar gewesen.

Der kulturelle Konflikt von Gut und Böse vollzieht sich somit nicht länger in der sinnlich erfahrbaren Welt, sondern im Innenleben einer jeden Person. 

Ja, in den Tiefen der eigenen Seele müssen wir nach einem sicheren Grund für das Dasein fahnden. Er entzieht sich der intellektuellen Erforschung und offenbart sich vielmehr in der instinkthaften und intimen Suche.

Zum Beispiel beim Schreiben.

Subjektivismus als Stärke

Wenn es der Betrachtung der Vorgänge in unserem Inneren bedarf, um zu einer ganzheitlichen Betrachtung der Welt zu gelangen, so ließe sich in der Hinwendung zum eigenen Gefühlsleben, im Gegenteil ein Reichtum erkennen. Weil die Erkundung von Bedürfnissen, Ängsten, Wünschen einen ergänzenden Blick auf all das wirft, was gesellschaftlich gewöhnlich zurückgedrängt wird. Geben wir dem einen Platz und leihen dem Ausgegrenzten unsere Stimme. Für mich jedenfalls ist es das, was mich (weiter)schreiben lässt, denn ich verstehe diese Möglichkeit der Literatur als Stärke, so wie ich die Lektüre von Christa Wolf immer als Gewinn verstanden habe.

Ein Gewinn an Ganzheit.

Corinna Antelmann, geboren 1969 in Bremen / Deutschland, lebt und schreibt seit 2006 in Oberösterreich. Sie istim Bereich Drehbuch dramaturgisch tätig, arbeitet vorwiegend jedoch als freie Prosaautorin und Dozentin für Storytelling, erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, veröffentlichte Romane, Essays, Jugendbücher und Kurzgeschichten.

Foto: Dirk Skiba

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