Über Behinderungen und Barrieren in Köpfen und bei Veranstaltungen. Von Irina Angerer.
Es bedarf nur weniger Sekunden, um eine behinderte Person zu diskriminieren. Manchmal reichen ein Ausdruck im Gesicht, eine Geste mit der Hand oder eine Bemerkung wie: „Schön, dass du trotzdem zu Veranstaltungen gehst“, wenn zum Beispiel eine Person, die einen Rollstuhl nutzt, an einem Konzert teilnimmt. Dem Satz folgt oft ein High-Five oder ein Fist-Bump. Und ja, es ist in so gut wie allen Fällen „gut gemeint“. Ein freundlich anmutender Zuspruch einer meist fremden Person. Denn schließlich passiert es nicht so oft, dass eine sichtbar behinderte Person fröhlich jubelnd in der Menge zum Beispiel zu Harry Styles’ Watermelon Sugar mitsingt. „Eine wahre Inspiration“ für andere Konzertgäste, einfach „mutig“. Aber: Gut gemeint ist nicht automatisch okay. Nicht selten versteckt sich hinter einer solchen Floskel Diskriminierung. Denn behinderte Menschen wollen rausgehen und Spaß haben. Punkt.
An einem Konzert teilhaben
Eine Sache ist allerdings wahr: Es stehen nicht nur selten behinderte Menschen auf der Bühne, sondern sie sind auch selten im Publikum. Oder wie oft sehen Sie Menschen mit Rollstühlen, Gehstöcken oder anderen Hilfsmitteln bei Konzerten? Ein Grund dafür könnte die Tatsache sein, dass nicht alle Behinderungen sofort sichtbar sind. Oder aber, dass behinderte Menschen meist für sie extra reservierte Plätze zugewiesen bekommen. Diese sind häufig erhöht und ein paar Meter von den tanzenden und mitsingenden Konzertbesucher*innen entfernt – und gegebenenfalls auch von den Freund*innen, denn meist darf bei diesen reservierten Plätzen nur eine weitere Begleitperson dabei sein. Überhaupt an einem Konzert teilnehmen zu können, ist leider auch alles andere als selbstverständlich. Innenräume sind nicht barrierefrei. Zumindest für einen Teil der Menschen, zum Beispiel auch für jene, für die ein Infekt wie eine Grippe oder COVID-19 immer noch weitreichende Folgen haben kann. Allein in Österreich gibt es laut Expert*innen 65.000 Menschen mit Post Covid. Für sie könnte jede weitere Infektion mit dem Virus eine langanhaltende Verschlechterung ihrer Krankheit bedeuten. Dasselbe gilt für Tausende von anderen Patient*innen in Österreich, die schwer chronisch krank sind. Für sie bedeutete das Ende der Maskenpflicht zusammen mit den weiterhin hohen Infektionswellen in Herbst und Winter vor allem eins: das Gefühl, nicht gehört und ausgeschlossen zu werden.
Zu Veranstaltungen anreisen
Aber auch vor der Pandemie war es nicht viel besser. Wenn eine behinderte Person zu einer Veranstaltung in eine andere Stadt fahren will, dann gibt es kein „mal kurz spontan übers Wochenende“ nach Berlin, Hamburg oder von mir aus auch nach Wels. Viele behinderte Menschen brauchen – insbesondere, wenn sie allein reisen möchten – einen Begleitservice, um von der eigenen Wohnung bis zu den Eingangstüren des Flugzeugs oder Zugs zu kommen. Vorab muss die Fahrt angemeldet und eine Rampe oder eine für den Einstieg wichtige Hebebühne angebracht werden. Richtig unangenehm wird es dann, wenn der Zug sich verspätet und die im Vorhinein nach stundenlanger Recherche geplante Reise im letzten Moment doch abgesagt werden muss – wegen zu kurzer Umsteigezeiten. Und auch der Weg vom Bahnhof in Berlin, Hamburg, Wels bis hin zum mühsam recherchierten und behindertengerechten Hotel muss geplant werden. Behinderte Menschen haben keine Lust, über zehn Minuten in der Telefonschleife zu hängen, um ein Ticket zu bekommen – oftmals bereits Wochen vor der Veranstaltung – um dann anschließend tagelang E-Mails wegen ihres Schwerbehindertenausweises herumzuschicken und am Ende ein „Sorry, ist zu umständlich.“ im Postfach zu lesen. Oder ein mürrisches „Ja, natürlich ist unser Saal barrierefrei!“ hingerotzt zu bekommen und dann zwei Wochen später vor einer für den eigenen Rollstuhl nicht passenden Rampe zu stehen.
Inklusiv handeln lernen
Egal ob fehlende Sitzplätze oder barrierefreie Toiletten: Wenn eine behinderte Person nicht einmal die Chance hat, an einer Ausstellung oder einem Konzert teilzunehmen, dann wird sie unsichtbar. „Naja, zahlt sich nicht aus.“ oder „Ist viel zu teuer.“, lauten die verlegenen Entschuldigungen. Meist gefolgt von einem ertappten Blick und dem Hinweis, dass es aber nebenan ein nettes Kino gäbe: „Die haben sogar eine Rampe!“. Das Problem: Je weniger behinderte Menschen an Kulturveranstaltungen teilnehmen, desto weniger werden sie als Zielgruppe wahrgenommen. Veranstalter*innen denken sie bei der Planung nicht mit, denn es kommen ja selten bis kaum behinderte Menschen. Wie sollten Sie auch, wenn weder der Ticketkauf noch die Räumlichkeiten barrierefrei sind?
Kulturbetriebe und Vereine sollten sich regelmäßig fragen: „Wie inklusiv sind wir und was können wir besser machen?“ Nicht nur für die Besucher*innen, sondern auch für behinderte Künstler*innen. Es gibt nichts Schöneres, als Menschen das Gefühl zu geben, dass sie gewollt sind. Dass das geht, zeigen auch einige Veranstaltungsreihen. Zum Beispiel gibt es in Berlin bereits Technoparties für Risikopatient*innen mit verpflichtenden Covid-Tests oder Maskenpflicht. Auch Partys für sehbehinderte oder gehörlose Menschen werden vereinzelt angeboten. Andere Veranstalter*innen setzen auf hohe Kontraste und einfache Sprache, wenn sie ihre Flyer gestalten. Und falls all das nicht motiviert, etwas zu ändern: Dann hier noch einmal die Erinnerung, dass behinderte Menschen die größte marginalisierte Gruppe sind, zu der jede*r jederzeit selbst gehören kann. Denn die wenigsten behinderten Menschen werden mit einer Behinderung geboren. Und: Wir alle gehören zu dieser Gesellschaft und können das Leben für uns alle gestalten.
Eines ist jedenfalls nicht verhandelbar: Behinderte und nicht behinderte Menschen sollten sich nicht wie ein Kostenfaktor fühlen. Sie sollten die Orchester auf den großen Bühnen bespielen und auch einmal ausgelassen zu Harry Styles feiern können.
‘Behinderte Person’ kommt aus der Identity-first-Sprache. Damit möchten Menschen ausdrücken, dass ihre Behinderung ein Teil ihrer Identität ist und dass man diese nicht von ihnen trennen kann.