Virtuell beitragen

Carmen Bayer über Idealisierung und Realität in virtuellen Räumen

Das Internet als Viele-an-Viele-Medium sollte bestehende Hürden – etwa die Gatekeeper-Funktion von traditionellen Medien – überwinden und die Vielfalt von Gesellschaften und Meinungen sichtbar machen, so die große Hoffnung der Neunziger Jahre. Ein paar Jahre später und wir alle kennen die ernüchternde Realität: Nicht diejenigen, mit den besten Recherchen, spannendsten Geschichten oder der größten Ausgrenzung im Offline-Raum haben die meiste Sichtbarkeit, sondern diejenigen, deren Content am besten zu den gesetzten Algorithmen passt, also die Empörten, Wütenden, die bereits Bekannten. So generieren auf TikTok etwa 10-20% der Nutzer*innen 80% der Inhalte. Der Rest hat sich zu passiven Zuschauer*innen entwickelt, die ab und zu vielleicht ein Video teilen. Wer jetzt nach der guten alten Zeit rufen möchte, als das Internet noch egalitär war und kein Filter Trends bestimmt hat, irrt: Schon in den Neunzigern führte Google ein PageRank-System ein, um die Suche für Nutzer*innen qualitativ zu verbessern. Macht ja auch Sinn, ganz ohne Struktur würde mensch sich wohl in der überwältigenden Masse an Information und Bullshit verlieren. Und wir haben auch viele wichtige Entwicklungen im virtuellen Raum erlebt: Facebook etwa kann als zentrales Werkzeug des arabischen Frühlings angesehen werden und wo wäre die gesellschaftliche Diskussion über Sexismus und sexuelle Übergriffe ohne #metoo? Wobei #metoo zugleich auch auf die ungleiche Sichtbarkeit im virtuellen Raum verweist: Denn der erste Online-Beitrag zu #metoo wurde bereits 2006 auf MySpace von der afroamerikanischen Bürger- und Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke geteilt, ohne nachhaltige globale Resonanz zu bewirken. Diese trat erst 2017 nach einem Tweet der Schauspielerin Alyssa Milano ein, über ein Jahrzehnt später! Zudem muss mensch sich jetzt auch noch die Frage stellen, ob derselbe Beitrag heute auf X unter dem Regime Elon Musks noch diese Reichweite erhalten würde. Aus der ursprünglichen Hoffnung wurden Populismus und Hass im Netz. Und doch kann das Internet auch sichere Räume und Vernetzungsmöglichkeiten bieten. Denn es gibt auch Plattformen abseits der Silicon-Valley-Ideologie und ein wenig Einfluss bleibt uns Nutzer*innen durch unser Verhalten in virtuellen Räumen doch!

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