Ruhe in unruhigen Zeiten

Carmen Bayer über Achtsamkeit, Mitgefühl und Zufriedenheit zwischen Selbstdarstellung, Stress und strukturellen Ursachen.  

Durchatmen

Studien belegen, dass Achtsamkeitsübungen dabei helfen, eigene Emotionen als flüchtige, vorübergehende Events anzusehen und eine nicht-wertende Grundhaltung einzunehmen – gegenüber sich selbst, aber auch anderen. Was zu Beginn nicht so einfach ist, wird mit etwas Übung besser. Einsteiger*innen sollten sich weder von zu hohen Erwartungen an die Übung – gut Ding braucht Weile – noch vom merkwürdigen Gefühl, einfach zu sitzen und zu schauen, von ihrer Mission abbringen lassen. Klassiker, wie ein ausgeschaltetes Handy und ein ruhiger Platz in der Natur, können dabei helfen. All das bedeutet jedoch nicht, dass man irgendwann frei von negativen Emotionen, Stress oder Vorurteilen ist oder sein soll, diese werden immer wieder auftauchen. Die Kunst besteht darin, sie bewusst wahrzunehmen und so zu verhindern, dass man sie verstärkt und daraus konkrete, unerwünschte Handlungen werden. Und manchmal kann Achtsamkeit auch bedeuten, wahrzunehmen, dass man gestresst oder überfordert ist und Punkt. Denn es geht dabei ja gerade nicht darum, aus Momenten der Achtsamkeit einen weiteren erfolgsorientierten Punkt auf der To-do-Liste zu machen.

Doch es bleibt ein Aber

Blickt man sich insbesondere in den sozialen Medien um, drängt sich zunehmend die Vorstellung auf, dass ein bisschen Atmen und Yoga eine vom Alltag abgehetzte Person in ein strahlendes, entspanntes Individuum verwandeln. Ganz so einfach ist es (leider) nicht. Denn gerade in Sachen Selfcare und Achtsamkeit kann Mensch sich wunderbar an anderen messen, sozusagen in den Wettbewerb um die größtmögliche Entspannung eintreten. Klingt nicht nur paradox, ist es auch. Die Unmengen an Achtsamkeits-Influencer*innen machen aus einer wunderschönen Pause eine hochstilisierte Selbstdarstellung, inklusive sündhaft teurer Yoga-Kleidung. Wer dann in der uralten Jogginghose am Boden im unaufgeräumten Wohnzimmer sitzt, kann mit diesen Vergleichswerten schnell die langersehnte Ruhe verlieren. 

Macht Stress einsam?

Selbst schuld, wer sich von all der Hektik vereinnahmen lässt? Ganz so einfach ist es leider nicht, Selbstreflektion und Problembewusstsein reichen nicht aus, sind es doch strukturelle Voraussetzungen, denen man sich beruflich wie privat kaum widersetzen kann. Doch bevor Dauerstress zu Erschöpfungserkrankungen wie Burnout führt, sind oft subtilere Anzeichen vorhanden. Fehlende Geduld anderen gegenüber ist wohl ein Symptom, das jede*r an sich schon beobachten konnte. Wohin das führen kann, zeigte eine kürzlich durchgeführte Zukunftswerkstatt zum Thema Einsamkeit in den Städten. Den Teilnehmer*innen wurde während des Austauschs zu Erfahrungen mit Einsamkeit klar, dass die ständige Reizüberflutung, Erreichbarkeit und Hektik im Alltag im Besonderen ihre Offenheit anderen gegenüber beeinflusst. Wer nicht hundertprozentig mit den eigenen Ansichten übereinstimmt, ist den Aufwand nicht wert. Der Rückzug in die eigene Bubble führt zu zunehmender Abschottung und Vorurteilen. Dem Psychologen und Autor Daniel Kahnemann zufolge lassen sich solche Vorgänge auf das System 1 zurückführen, also das emotionale, unbewusste Denken, welches automatisiert abläuft und wenig Interesse an Komplexität hat. Je voller der Kopf, desto weniger Raum bleibt für differenziertes Denken, das Hinterfragen eigener Werturteile und Mitgefühl.

Schneller, weiter, besser – Sein! 

Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt, wie sich die Strukturen des wettbewerbsorientierten kapitalistischen Marktsystems auch auf individueller Ebene im erschöpften Selbst ausdrücken. Die dank technischer Fortschritte gesteigerte Geschwindigkeit im Alltag, gekoppelt an die Werte der Leistungsgesellschaft, münden in einem beruflich wie privaten andauernden Rennen um Anerkennung. 
Es gilt, schneller und besser zu sein als die anderen. Denn sowohl Erfolg als auch Misserfolg sind ausschließlich selbst zu verantworten, Zufall oder Glück werden ausgeblendet.
Und doch dürfen wir nicht aufhören zu versuchen, Pausen zu finden, nicht nur für das eigene Wohlbefinden, sondern auch für unsere Mitmenschen. Und kann es nicht auch ein kleiner Akt der Rebellion sein, sich von all den Vergleichen und Sollen und Müssen zu lösen und wenigstens für ein paar Momente einfach nur zu Sein?

Rosa, Harmut: Beschleunigung und Entfremdung. Frankfurt: Suhrkamp, 2013.

Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2011

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