Was der Zeitgeist für Literaturklassiker bedeutet und wie Sensibilisierungs-Prozesse im Verlagswesen dazu beitragen, eine Literaturwelt für möglichst alle zu gestalten. Hannah Stuck über sprachliche Entwicklungen am Beispiel der Kinder- und Jugendliteratur.
Sprache verändert sich immerfort, doch das geschriebene Wort ist beständig. Manch ein literarisches Werk scheint einige Jahrzehnte nach der Entstehung bereits sprachlich aus der Zeit gefallen zu sein. Bei den einen weckt dieser Effekt Nostalgie, anderen ist eine altmodische Sprache zuwider. Diese Bewertungen bleiben nur dann neutral, solange es dabei um persönlichen Geschmack geht, um eine Vorliebe für diesen oder jenen Stil. Kommt eine diskriminierungssensible Perspektive hinzu, wird es kontrovers. Viele Literaturklassiker wären schlecht gealtert, heißt es dann.
Zeit für Veränderung
Besonders brisant wird dieses Thema diskutiert, wenn es sich dabei um Kinder- und Jugendliteratur handelt. Diese lebt nicht nur von den Geschichten selbst, sondern ist auch immer Teil kultureller und sprachlicher Bildung. Kinder und Jugendliche erleben Erzählungen nicht nur inhaltlich viel ungefilterter als Erwachsene, sie nehmen auch sprachliche Charakteristika eher als gegeben hin. Sie formen sich aus allem, was sie wahrnehmen, ihre Realität. Der Einfluss von Sprache ist immens. Nicht umsonst ist das berühmte Zitat des Philosophen Wittgenstein “Sprache schafft Wirklichkeit” heute zum unbestrittenen Allgemeingut geworden. Bücher haben also gewissermaßen die Macht, die Realität von Kindern mitzuformen. Blicken wir mit diesem Wissen in die Bücherregale deutschsprachiger Kinderzimmer, wird deutlich, dass die Sprache der Bücher oft stark von der Realität der Kinder und Jugendlichen abweicht: die überzeichnet tradierte Rollenverteilung der Eltern und die Unterrepräsentation von Figuren of Color sind da nur Beispiele. Verschiedene Disziplinen wie Pädagogik und Soziologie sowie Eltern kritisieren diskriminierende Sprache in Kinderbüchern z.B. in sozialen Medien unter dem Hashtag #wasichnichtvorlese. Auch oder sogar gerade die Koryphäen der Kinderbuchliteratur wie Astrid Lindgren, Michael Ende oder Roald Dahl sind vor dieser Kritik nicht gefeit. Auch ihre Sprache unterliegt heute einer Bewertung, die zur Zeit der Entstehung noch eine ganz andere war. Sprache befindet sich in einem stetigen Wandel. Neben beispielsweise (inter)kulturellen Einflüssen ist die Evolution der Sprache auch immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung.
So irritiert es uns heute, wenn in Michael Endes Jim Knopf das N-Worts verwendet wird. Wir wissen um die historische Bedeutung und die Verletzungen, die es auslösen kann. Wir haben sprachlich sensiblere Ausdrücke dafür gelernt. Auch wenn Michael Ende vermutlich keine abwertende Intention bei der Verwendung des Wortes hatte, so hat er sich dennoch damit rassistischer Sprache bedient und damit rassistische Narrative reproduziert – wissen wir heute.
Bewusstsein im Verlagswesen
Literaturverlage wissen das ebenso. 2024 wurden entsprechende Anpassungen in den Jim Knopf-Büchern vom Thienemann Verlag vorgenommen.
Pippi Langstrumpfs Vater ist dagegen schon weit aus länger, seit 2009, in der deutschen Version ein “Südseekönig”, das N-Wort ist in dem Begriff nun nicht mehr enthalten. Anders in der schwedischen Version: Die Nachkommen Astrid Lindgrens verwalten alle Rechte selbst und überlassen Änderungen nicht den Verlagen. Es ist ihnen wichtig, das Erbe Lindgrens zu schützen. Deshalb wurde das N-Wort dort erst 2015 geändert. Änderungen in Übersetzungen fallen leichter, als den Originaltext anzupassen, verriet Lindgrens Enkelin Annika der Zeit in einem Interview. Generell würden eher ganze Passagen in Büchern gestrichen, als die Sprache Astrid Lindgrens im Nachgang zu verändern.
Sprachliche Sensibilisierung ist ein Prozess
Der Fall Roald Dahl zeigt wiederum, dass der Umgang mit Originaltexten in Verlagshand auch anders sein kann: Der britische Verlag Puffin Books hat 2022 umfangreiche Änderungen in Klassikern von Dahl wie Charlie und die Schokoladenfabrik oder Matilda vorgenommen. Hunderte Worte in etwa zehn Büchern wurden in Zusammenarbeit mit Sensitivity Readern verändert, z.B. wurde aus “She needs a really good spanking” („Der gehört mal ordentlich der Hintern versohlt“) “She needs a really good talking to” („Die bräuchte mal ein gutes Gespräch“).
Diese umfangreichen sprachlichen Veränderungen lösten eine Welle der Empörung aus. Die mit der neuen deutschen Übersetzung der Dahl-Werke betraute Sabine Ludwig nannte das Ergebnis von Puffin Books eine “Mogelpackung”. Es stehe Roald Dahl darauf, er sei aber nicht mehr darin.
Weitere Kritik am Verändern, Glätten und Streichen literarischer Werke kommt von Seiten der AfD. Rainer Balzer, kulturpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion in
Baden-Württemberg, nennt die Änderungen in Jim Knopf und Pippi Langstrumpf “Kulturbarbarei” und kündigt an, die AfD würde sich solchen “Absurditäten” immer entgegenstellen.
Betroffenenverbände, wie der ISD e.V. (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland) wiederum äußern sich erleichtert. Endlich würden die Stimmen Schwarzer Menschen nicht weiter ignoriert.
Geschichten für alle
Letzten Endes bleibt die Frage: Für wen ist eine Geschichte da? Lindgrens Antwort darauf war klar: für alle Kinder. Daher fiel es der Familie auch nicht schwer, der Änderung verletzender Worte zuzustimmen – schließlich sogar im Originaltext. In der Literaturwelt ist eine Geschichte aber auch immer für ihre Autor*innen selbst da. Sie sind ein Charakteristikum und zeigen, wie sie die Welt sehen, wie sie schreiben und schließlich auch ein wenig, wer sie sind. Pippi Langstrumpf verleiht Astrid Lindgren großes Ansehen, Jim Knopf formt gewissermaßen das Bild, das wir von Michael Ende als Autor haben.
Vielleicht braucht es heutzutage nicht nur die Wertschätzung für die brillianten Geschichtenschreibenden und die Dankbarkeit für all die Abenteuer, in die sie uns entführt haben, sondern andererseits auch die Demut gegenüber den Lesenden und ihrer Würde.
Geschichten sind immer Zeugnisse ihrer Zeit und ihre Authentizität hat ebenso einen gewissen kulturellen Wert. Doch was wiegt schwerer? Das Festhalten am Original oder das Ermöglichen einer Literaturwelt, die für alle da ist?