Eine Möglichkeit im Arbeitsleben von Künstler*innen ist das Einreichen bei Open Calls. Welche unsichtbaren Barrieren sich dabei auftun, berichtet Napsugár Trömböczky.
Mythos “Arbeit aus Leidenschaft”
Die Soziologin Katja Praznik argumentiert in ihrem Buch Artwork, dass die „Essenzialisierung der künstlerischen Arbeit nachteilig ist, weil wir damit die Kunst als produktive soziale Tätigkeit von anderen Arbeitsformen abtrennen und zu einer unsichtbaren Arbeit machen“ [1]. Es sei unsere Berufung als Künstler*innen, zu schaffen, so wie es als wesentlicher Wunsch von Frauen angesehen wird, sich um ihre Familien zu kümmern. Praznik zieht diesen Vergleich heran, um patriarchalisch-kapitalistische Unterdrückungsmuster in der Kunstszene zu erforschen und zu zeigen, wie der Mythos von der „Arbeit aus Leidenschaft“ die Künstler*innen selbst dazu bringt, ihren Teil des Status quo aufrechtzuerhalten. Zur unsichtbaren Arbeit zählen etwa Aufrechterhaltung und Produktion der künstlerischen Arbeit(en).
Arbeiten in Ungarn
Da die unabhängige Kunstszene in Ungarn immer mehr von der FIDESZ unterdrückt wird, ergeben sich im Kampf ums Überleben verschiedene (selbst-) ausbeutende Lösungen. Die von mir praktizierte Strategie besteht darin, Kooperationen im Ausland aufzubauen: mich an den Westen zu verkaufen [2]. Der Schritt ins Ausland ist mehr als ein persönlicher Wunsch nach Anerkennung und Wachstum im Ausland – es ist ein existenzielles Grundbedürfnis. Es ist die einzige Option, die die Möglichkeit eines zensurfreien Arbeitens, gemeinsamer sozialer und künstlerischer Werte und fairer Bezahlung bietet. Und dafür ist mein einziger Zugang die geheimnisvolle Welt der Open Calls.
Offene Zugänge durch Open Calls?
Theoretisch sollte ein Open Call die Antwort auf die Probleme mit dem bekannten Klassismus, Whiteness und Nepotismus (Vetter*innenwirtschaft) der reichen westlichen Kunstwelt bieten. Ein Weg, um Zugänge zu öffnen – oder doch nur ein Werkzeug, das zu „care-washing“ führt, denn die Veröffentlichung eines Open Calls wird leider nicht genügen5, um das jahrhundertelange System zu reparieren, das den Privilegierten dient.
Die Bewerbung auf diese Calls erfordert endlose Stunden der Recherche und Materialvorbereitung: Ziele, Anfrage, Förderfähigkeit, Jury, frühere Stipendiaten, Konzept, Motivationsschreiben, Empfehlungen, Bearbeitung des Portfolios und der Dokumente in bestimmten Formaten usw. Da ich es mir nicht leisten kann, jemanden zu beschäftigen, muss ich selbst diese Tätigkeiten unbezahlt erledigen. Im vergangenen Jahr habe ich für mehr als 60 Open Calls recherchiert, davon etwa bei 40 eingereicht, von denen 8 erfolgreich waren.4 Nach meinen Statistiken erfordert eine Bewerbung zwischen 3 und 10 oder mehr Stunden. Nehmen wir 40 Bewerbungen und einen durchschnittlichen Arbeitsaufwand von 5 Stunden für jede, ergibt sich ein Minimum von 200 Stunden unbezahlter Arbeit pro Jahr. Das entspricht 5 regulären Arbeitswochen. Wenn dies der erwartete Aufwand ist, der für den Betrieb des Systems benötigt wird, wer ist dann in der Position, sich diese Zeit tatsächlich leisten zu können?
Wer Entscheidungen trifft
Der erforderliche Zeitaufwand erhöht sich für Marginalisierte drastisch. Um Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrung zu nennen: Die Sprache limitiert den Zugang: Komplexe und akademische Texte in der Zweit- oder Drittsprache zu schreiben oder gar zu verstehen, erfordert zusätzliche Anstrengungen, insbesondere da ich in der Schule nie Englisch gelernt habe. Da ich in Armut aufgewachsen bin und meine Eltern ein geringes Ausbildungsniveau haben, verfüge ich weder über ein ererbtes Wissen oder Referenzen, noch über ein finanzielles oder emotionales Unterstützungssystem. Da ich von Ängsten betroffen und neurodivers bin, ist der Zeitaufwand ohne sichtbares Ergebnis höher als die tatsächlich „messbare Arbeit“. Viele dieser Probleme lassen sich ohne gelebte Erfahrung nicht einschätzen – und die Erfahrungen der Entscheidungsträger*innen geben die Norm vor. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, Expert*innen von „Minderheiten“ in die Gestaltung von Ausschreibungen, Institutionen und Finanzierungssystemen einzubeziehen und sie sogar in Machtpositionen zu bringen. Ihre Fähigkeiten und Ansprüche, die sich aus der gelebten Erfahrung ergeben, können nicht ersetzt werden. Dafür braucht es mehr als Feedback-Formulare, die häufig gängige Praxis und ein viel zu kleiner, meist unbezahlter Teil der Arbeit sind.
[1] Katja Praznik: Artwork, invisible labour and the legacy of yugoslav socialism
[2] nach dem Projekt: How to sell yourself to the West? (Ada Mukhina, DE)
Der Text wurde in längerer Version erstveröffentlicht in: In my Open Call era – How hierarchies and invisible labour run the independent art scene…; publiziert in WomanJournal vol.5 „Sympa?“ von WomanCave Collective (FR), editiert von Chloé Macary-Carney, 2024
A Call to Open Calls
von Platform BK (NL) bietet praktische Lösungen, die ein guter Ausgangspunkt für Veränderungen sein können, zum Beispiel:
Nur die notwendigen Informationen abfragen, mehrere Runden in Betracht ziehen; bei der Form der Bewerbung flexibel sein; allen Bewerber*innen ein Feedback geben; Die Institutionen sollten ihre eigenen Recherchen anstellen, um den Call zu verbreiten oder lieber (!) Künstler*innen einladen, die zu der marginalisierten Gruppe passen, auf die sie sich konzentrieren möchten, usw.
Die Publikation kostenlos als PDF: platformbk.nl
Rechte Kulturpolitik in Ungarn
In dem so genannten „Kulturkampf“ haben Mitglieder der FIDESZ ihre Identitätspolitik auf die Kunstszene ausgedehnt, und zwar vor allem auf das Theater. Indem sie eine Trennung zwischen “loyalem” und “echtem” kulturellen Wert und durch den Westen beeinflusster, liberaler und „gefährlicher“ Kunst schaffen, entfernen sie alle, die nicht ihren nationalistischen und konservativen Werten dienen: Sie privatisieren Universitäten, setzen loyale Personen in die Regierung, reduzieren oder beseitigen unabhängige Finanzierungs- und Vergütungssysteme, gestalten das Steuersystem für Freiberufler*innen neu etc.