Warum wir Normen hinterfragen sollten. Von Michaela Maria Hintermayr.
1. Was bedeutet normal?
Der Begriff normal ist von kulturellen, historischen und sozialen Kontexten geprägt. Was in einer Kultur als normal gilt, kann in einer anderen als unüblich oder sogar abweichend betrachtet werden. Diese relativen Vorstellungen von Normalität zeigen, dass es keinen festen, universellen Maßstab gibt.
2. Warum ist die Vorstellung des Normalen so wichtig für uns?
In einer komplexen, chaotischen Welt ist es beruhigend, an Standards festzuhalten, die uns helfen, uns zu orientieren, unser Leben zu strukturieren und unsere Identitäten zu festigen. Wenn wir wissen, was normal ist, können wir unser eigenes Verhalten besser einschätzen und uns in sozialen Situationen zurechtfinden. Allerdings umfasst die Vorstellung vom Normalen auch negative Aspekte wie Exklusion und Diskriminierung, Begrenzung der Vielfalt und Druck zur Anpassung.
Darüber hinaus wird das Normale oft mit Gesundheit, Wohlstand und Erfolg assoziiert. Wer von der Norm abweicht, wird häufig als krank, unglücklich oder gescheitert angesehen, was dazu führt, dass Menschen große Anstrengungen unternehmen, um der Norm zu entsprechen. Was allerdings “gesund”, “glücklich” und “erfolgreich” sonst noch bedeuten könnte, wird oft nicht besprochen.
3. Der Druck der Normalität
Der Mythos des Normalen kann schädlich sein. Er erzeugt Druck und ist oft mit unrealistischen Erwartungen verbunden. Menschen, die von der Norm abweichen – sei es in Bezug auf Aussehen, Verhalten oder Lebensentscheidungen – erleben oft Diskriminierung, Ausgrenzung oder Stigmatisierung. Der Mythos des Normalen lässt wenig Raum für Individualität und Diversität, obwohl die menschliche Erfahrung vielschichtig und vielfältig ist.
4. Normalität als Machtinstrument
Das Konzept der Normalität wurde und wird häufig als Machtinstrument verwendet. Regierungen, Institutionen und soziale Gruppen nutzen es, um bestimmte Gruppen zu unterdrücken oder zu marginalisieren. Beispiele hierfür sind die Pathologisierung von Homosexualität, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen oder zugeschriebene Geschlechterrollen.
5. Der Mythos als Hindernis für Fortschritt
Der Glaube an eine Norm behindert auch sozialen Fortschritt und Innovation. Viele bedeutende Entwicklungen – ob in Wissenschaft, Kunst oder Kultur – stammen von Menschen, die die bestehenden Normen infrage gestellt haben. Gleichzeitig wird Kunst und Kultur immer wieder aufgetragen, die Norm in Frage zu stellen. Die Betonung der Normalität kann Kreativität und Wandel ersticken, weil sie Abweichungen als Problem statt als Möglichkeit sieht.
Fazit:
Der Mythos des Normalen ist eine bequeme Illusion, die uns vermeintlich Sicherheit und Orientierung bietet. Doch in Wirklichkeit schränkt er uns in vielen Möglichkeiten ein, das volle Potenzial menschlicher Vielfalt und Kreativität zu erkennen und zu schätzen. Es ist wichtig, diesen Mythos zu hinterfragen und eine Gesellschaft zu fördern, die Vielfalt und Andersartigkeit nicht nur toleriert, sondern wertschätzt und nicht als etwas Störendes abtut. Denn letztlich ist normal nur eine Konstruktion – eine, die wir ändern können, um eine gerechtere und freiere Welt zu schaffen.