Barrieren abbauen & gestattete Ignoranz

Wer blickt wie und auf wen? Wer spricht ÖGS? Wer wird ignoriert, wer ignoriert und was ist dabei “normal”? Susi Hinterberger nahm an der Summer School des Filmmuseum Wien teil und stößt ausgehend davon Reflexionen an.

Die Summer School des Filmmuseum Wien bietet Pädagog*innen jedes Jahr die Möglichkeit, sich vertieft mit einem Thema auseinanderzusetzen. Das Thema 2024 war Reproduzieren. Reflektieren. Intervenieren – Der filmische Blick und das Konstrukt der Behinderung. Diesem näherten wir uns gemeinsam mit den Dozierenden anhand von theoretischen Inputs, Diskussionen und Filmen. ‚Wir‘, das waren rund zwei Dutzend Teilnehmende, alle mit verschiedenen Bezügen zur Filmvermittlung. 

Wie der Beschreibung des Programms zu entnehmen ist, wurde Behinderung als “soziale Konstruktion” verstanden, „die durch normative Diskurse primär gesellschaftlich hergestellt wird“. Zentral ist in dieser Konstruktion der Blick von Menschen auf andere. In Bezug auf Filme kann man dies anhand der Fragestellung ‚Wer blickt wie und auf wen?‘ formulieren. Blicke in Filmen können Machtverhältnisse reproduzieren, sie können sie aber auch hinterfragen und bearbeiten.

Situiertes Filmschauen

Um einen reflektierten Umgang mit den unterschiedlichen Reaktionen der Teilnehmenden auf die Filme zu ermöglichen, wurde von den Dozierenden am ersten Fortbildungstag der Begriff des „situierten Wissens“ eingeführt¹. Die Philosophin und Wissenschaftstheoretikerin Haraway spricht sich dafür aus, dass sich einer objektiven Sicht nur genähert werden kann, wenn die eigene Positionierung offengelegt wird: „Vielleicht gelingt es uns so, eine Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen.”

Die individuellen Erfahrungen und Identitäten eines jeden Menschen erzeugen unterschiedliche Perspektiven, welche auch nie für alle gelten können. Durch einen reflektierten Umgang damit kann der Austausch über verschiedenen ‚Situiertheiten‘ hinweg stattfinden.

Wie wird miteinander gesprochen?

Die Dozierenden hielten die Fortbildung in der Lautsprache Deutsch und es wurde durchgehend auf ÖGS (Österreichische Gebärdensprache) gedolmetscht. Für mich war der Kontakt mit ÖGS und den Anforderungen an diese Art der barrierefreien Kommunikation neu. Als hörende Person hatte ich mir wenige Gedanken darüber gemacht und wurde auch zuvor nicht mit meiner Ignoranz konfrontiert. 

Durch die dominante Stellung von Lautsprachen wurden meine Versäumnisse bisher nicht herausgefordert; auch in der Fortbildung war ich nicht so konsequent, wie ich es hätte sein müssen. Umgekehrt kamen mir in einer Gesprächssituation die anderen mithilfe von Handynotizen entgegen, da ich mich nicht auf ÖGS verständigen konnte. Ich wusste das sehr zu schätzen, kam aber nicht umhin, daran zu denken, dass die Bedürfnisse von hörenden Menschen sowieso ständig im Vordergrund stehen. 

Gestattete Ignoranz

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das Konzept der gestatteten bzw. belohnten Ignoranz der Literaturwissenschaftlerin und Theoretikerin Gayatri Spivak hinweisen. Dieses entlehne ich dem Diskurs des Postkolonialismus, wo es auf die von kolonialer Ungleichheit geprägte Ignoranz gegenüber marginalisierter Wissensbestände verweist. „… Spivak [spricht] von der gestatteten, ja der belohnten Ignoranz … – jener Ignoranz also, die nicht blamiert, sondern im Gegenteil die eigene Position der Macht stabilisiert …“ ². Ich behaupte, dass meine Ignoranz gegenüber der Kommunikation in ÖGS nicht negativ aufgefallen ist, weil sie eine gesellschaftlich gestattete ist. Gleichzeitig wird durch dieses Ausblenden anderer sprachlicher Bedürfnisse die dominante Position der Lautsprachen reproduziert.

Bei der Erkenntnis allein darf es jedoch nicht bleiben. Wenn einem*einer die eigene machtvolle Position auffällt, kann und muss man beginnen, diese zu bearbeiten. Dass ich keine ÖGS-Kenntnisse habe und diese auch nicht von mir verlangt werden, ist weder zufällig noch neutral. Diese Normen können sich hin zu gleichberechtigteren Kommunikationsräumen verschieben, in dem wir Schritt für Schritt an den gesellschaftlichen Schieflagen arbeiten (und z. B. damit beginnen, ÖGS zu lernen oder Räume so zu gestalten, dass unterschiedliche Sprachkenntnisse keine oder weniger Barrieren darstellen).



¹Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, 2001, S. 281-298

²María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan, Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus, 2007, S. 348

Filmmuseum, Summer School zur Filmvermittlung, https://www.filmmuseum.at/summerschool 

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