Was Armut mit uns macht und wieso es “normal” sein sollte, darüber zu reden: Daniela Brodesser, Brigitte Theißl und Fatih Özköseoglu im Gespräch mit Katja Frey über soziale Ungleichheit, wie sie aufrechterhalten wird und wie man dem in der Kulturarbeit entgegenwirken kann.
Katja Frey: Warum wird Klassismus im Vergleich zu anderen Diskriminierungsformen wenig thematisiert?
Daniela Brodesser: Mein Handy kannte bis vor Kurzem den Begriff ‘Klassismus’ nicht und hat es immer auf ‘Klassizismus’ korrigiert. Fakt ist, den meisten ist nicht bekannt, dass Klassismus eine Diskriminierungsform ist. Das hat einerseits mit dieser Individualisierung zu tun: “Du musst besser, schneller, fähiger sein als die anderen”. Und andererseits wird es oft als gegeben dargestellt: “Du bist in die Familie geboren und das ist jetzt so. Uns ging es früher auch schlecht und wir haben nicht gejammert.”
Solange wir es als Gesellschaft nicht schaffen, mit diesen Mythen aufzuräumen, werden sich nur wenige Leute hinstellen und sagen: Moment, das hat ja wirklich strukturelle Ursachen.
Brigitte Theißl: Das hat viele Gründe. Es hat sich gesellschaftlich vieles verändert, die Arbeitswelt hat sich verändert, es hat auch durch politische Veränderungen eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft gegeben. Viele Menschen arbeiten vereinzelt und prekär. Das macht es schwerer, sich zusammenzuschließen. Der Klassismus-Begriff selbst ist im DACH-Raum noch nicht so bekannt. Ich glaube aber schon, dass ein neues Klassenbewusstsein kommt.
Fatih Özköseoglu: Keine gesellschaftliche Veränderung findet ohne kulturelle Veränderung statt. Medial merkt man beispielsweise, dass Filme oder Serien früher viel mehr die arbeitende Klasse und ihre Probleme abgebildet haben, wenn auch überspitzt. Heute geht es oft darum, irgendwelche Geschichten zu erzählen, die vom Alltag ablenken.
Frey: Es braucht ja auch ein dickes Fell, wenn man Armut thematisiert. Was macht Scham/Beschämung mit uns und wie können wir sie überwinden?
Brodesser: Betroffene verlieren nach und nach ihre sozialen Kontakte, denn Freizeitaktivitäten kosten Geld, das man nicht hat. Man isoliert sich und irgendwann denkt man: Nur ICH schaff es nicht. Es stellt sich natürlich niemand gern in die Öffentlichkeit, wenn man gerade den Job verloren hat. Schlagzeilen in Medien verstärken das Gefühl.
Özköseoglu: Scham ist sehr wirksam und dynamisch. Je nachdem, wie sie gebraucht wird, wird sie eingesetzt. Auf der einen Seite soll man sich schämen, wenn man arm ist, aber auf der anderen Seite muss man im Kapitalismus schamlos sein und Leute betrügen. Da wird das sogar fetischisiert. “Der hat es zu etwas gebracht!”
Theißl: Es kann bestärkend sein, wenn man überhaupt eine Person findet, mit der man sich “in echt” austauschen kann. Je mehr Leute sich dagegen wehren und zusammenschließen, umso mehr bewirkt das.
Frey: Daniela, du schreibst in deinem Buch, dass es über 70.000 Non-Taker gibt. Also Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen haben und diese nicht in Anspruch nehmen, weil sie es z. B. nicht wissen. Woran liegt das?
Brodesser: Es gibt viel Nicht-Wissen und Desinformation. Wir haben aktuell eine Sozialhilfe, für die Höchstgrenzen festgelegt sind, was man maximal verdienen darf, um Sozialhilfe zu beziehen. Jede Behörde kann willkürlich nach unten gehen. In OÖ wird die Wohnbeihilfe als Einkommen angerechnet, in anderen Bundesländern nicht. Du weißt vorher nie, wie viel du bekommst. Ich verstehe natürlich, dass manche sagen, für 100 Euro tu ich mir das nicht an. Darum bin ich Verfechterin der Mindestsicherung – also von Mindeststandards. Viele der Non-Taker gehen z. B. auch deswegen nicht, weil sie zur Gemeinde müssten: Du stellst nicht bei deiner Nachbarin, die dort zuständig ist, den Antrag auf Sozialhilfe, wenn du schon zuhause probierst, die Armut zu verstecken. Es gibt keine Möglichkeit, Anträge online abzuwickeln. Da fehlt es an einfachen und niederschwelligen Zugängen.
Frey: Wer hat eigentlich Interesse daran, die Unterschiede aufrechtzuerhalten und wie können wir dagegenhalten?
Özköseoglu: Es gibt dieses Versprechen, wenn wir uns ganz toll bemühen und anstrengen, schaffen wir es zu etwas. Das gleiche Versprechen gibt es auch in der Schule. Das wird den Schüler*innen und Eltern versprochen, aber im Endeffekt geht es nicht um Wissensvermittlung, sondern darum, auszusieben.
Brodesser: Was passiert denn, wenn alle Kinder die gleiche Bildung bekommen? Wenn wir plötzlich nur noch top-ausgebildete Fachkräfte hätten? Wer macht dann die niedrig bezahlten Jobs? Es gibt eine Studie aus England, die vergleicht, welcher Job für die Gesellschaft am wichtigsten und welcher am schädlichsten ist. Der wichtigste Job ist der des Reinigungspersonals im Krankenhaus. Weil wenn das nicht funktioniert, liegen immer mehr Leute länger flach und die Wirtschaft geht unter. Einer der schädlichsten Jobs ist der der Steuerberater*innen. Weil sie den Leuten helfen, dass sie weniger Steuern an den Staat zahlen. Unsere Gesellschaft braucht diese Niedriglohn-Jobs. Deswegen wollen sie auch gar keine Bildungsgleichheit.
Publikumsinput: Was kann ein Individuum tun, um einen positiven Beitrag gegen Klassismus zu leisten?
Özköseoglu: Wir befinden uns in einer Zeit, in der der Individualismus auf allen Ebenen stark vorhanden ist. Der wesentliche Punkt ist sich zu organisieren. Ob in einer Gewerkschaft, beim Wählen oder wenn man sich politisch engagiert. Es fängt bei sich selbst an. Wo bin ich klassistisch? Wo bin ich von Klassismus betroffen? Es geht nicht um einen moralischen Ansatz, sondern um eine Lebenshaltung. Es geht darum, zu sagen: Ich habe Anspruch auf ein gutes Leben. Jede*r hat Anspruch auf ein gutes Leben. Und es geht darum, sich Gedanken darüber zu machen, was ein gutes Leben ist.
Brodesser: Sich informieren und ein paar Fakten zurechtlegen. Das hat mir geholfen. Wenn man schnell ein paar Zahlen im Kopf hat und ein bisschen Wissen darüber, kann man dagegenhalten.
Theißl: Im Kleinen anfangen – ob in der Familie oder am Arbeitsplatz. Wenn Leute immer wieder etwas dazu hören, macht das etwas mit ihnen. Viele Leute beschäftigen sich zu wenig damit und da kann man im Gespräch durchaus was erreichen.
Frey: Wie können wir Kulturangebote niederschwellig gestalten und kommunizieren, so dass Armutsbetroffene Angebote wie Soli-Tickets in Anspruch nehmen?
Brodesser: Erreichbarkeit von Armutsbetroffenen ist immer ein großes Thema. Armut ist Dauerstress. Man weiß gar nicht, welche Veranstaltungen es gibt. Wenn man sich dann auch noch per Mail für ein gratis Ticket melden muss, rattert der Kopf: Muss ich einen Nachweis bringen? Wer weiß dann, dass ich es mir nicht leisten kann? Da verliert man schon viele Armutsbetroffene. Es gibt ein Beispiel aus OÖ, die bei jedem Event kommunizieren “Wenn ihr eich des ned leisten könnt, kumts trotzdem: Wir san so vü im Ort, die ka Göd hobn. Ihr sads ned allein.” Die schreiben das im Dialekt auf jedes Plakat und da kommen immer mehr Leute, weil sie wissen, sie sind nicht die Einzigen.
Eine andere Idee sind Soli-Tickets. Dass Personen 2 Karten bezahlen und ein Ticket an der Kasse liegen lassen, das sich dann Personen nehmen können.
Özköseoglu: In Linz gibt es den Kulturpass, um das Kulturangebot auch für armutsbetroffene Personen zu ermöglichen.
Brodesser: Supertolle Sache, aber das Angebot wird viel zu wenig kommuniziert. Ich habe erst nach 3 Jahren Aktivismus durch Zufall davon erfahren.
Publikumsinput: Was haltet ihr von Eintritten auf freier Spendenbasis?
Theißl: Aus Klassensicht ist das leider kein gutes Konzept. Es passiert nämlich häufig so, dass Studierende, die eigentlich genug Geld haben, aber diesen Monat schon viel ausgegeben haben, eher weniger bezahlen und gerade armutsbetroffene Personen, aus einem schlechten Gewissen heraus, zu viel geben.
Was ist Klassismus eigentlich genau? Nachzulesen in der Rubrik Splitter in der Heftmitte.
Das Gespräch fand ausgehend vom Thema (Un)sichtbare Klasse im Rahmen der Veranstaltungsreihe The Future Starts Now des Kulturverein waschaecht Wels statt. Die Reihe wird via Livestream übertragen und kann auf dem YouTube-Kanal vom Kulturverein waschaecht Wels nachgesehen werden. Nächster Termin: 27.3.2025 zum Thema Geschlechtsidentitäten.