Werdet EuropäerInnen!

Das Salzkammergut, die Bodenseeregion, Wels und St. Pölten – immer mehr Städte und Regionen bewerben sich um die Austragung der Europäischen Kulturhauptstadt 2024. Dabei ergeben sich – abseits von Infrastruktur und Tourismus – Chancen, über sich selbst hinauszuwachsen. Die Beteiligten müssen nur wollen.

Denkt man an Europäische Kulturhauptstadt, dann reibt sich so mancher politisch Verantwortlicher die Hände, ist es doch eine seltene Gelegenheit, mit nicht unbeträchtlichen zusätzlichen Finanzmitteln einen großen Sprung nach vorne zu machen. Hier ein Verkehrsprojekt, dort ein Veranstaltungszentrum und nicht zu vergessen, die eigene touristische Marke in Europa zu verankern. Das sind legitime Anliegen. Trotzdem wäre wesentlich mehr drin.

Europa ist unsere Zukunft

Europa ist nicht nur eine Rechnungsadresse oder ein Fördertopf. Europa ist unsere Zukunft, denn die Nationalstaaten haben ausgedient. Sie sind unfähig, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen, die schon längst keine Grenzen mehr kennen, wie gerade der Klimawandel zeigt. Dieses Europa gilt es mitzugestalten, wenn das nicht weiter nur die Wirtschaftslobbyisten tun sollen. Das setzt voraus, dass sich die Menschen auch als politische Subjekte dieses Europas verstehen und ihre Aufmerksamkeit dorthin richten, wo wirklich die Musik spielt: im EU-Parlament, der EU-Kommission, europaweiten Interessenverbänden und NGOs. Dort wird die Zukunft verhandelt und es ist Zeit, dass die Menschen sich einmischen – als selbstbewusste EuropäerInnen. Erst dann kann es um konkrete Politikfelder gehen: um soziale Gerechtigkeit und fairen Handel, um Migrationspolitik und ArbeitnehmerInnenrechte, um Datenschutz und Lebensmittelsicherheit, um nur einige zu nennen. Europäische Politik muss in eine europäische Öffentlichkeit eingebettet sein, damit diese Öffentlichkeit Einfluss nehmen, mitdiskutieren, Volksbegehren initiieren, demonstrieren und partizipieren kann. Diese Europäische Identität zu entwickeln muss das Ziel einer Europäischen Kulturhauptstadt sein, die diesen Namen auch wirklich verdient.

Kulturhauptstadt als Chance begreifen

Eine Kulturhauptstadt kann zum Pionier werden, wenn sie dieses „window of opportunity“ nutzt und sich intensiv mit dem Europäischen Integrationsprozess und der eigenen Rolle darin auseinandersetzt. Was bedeutet es, wenn Staaten zusammenwachsen und die nationalstaatliche Ebene immer unwichtiger wird? Wie kann demokratische Partizipation diesen neuen Strukturen gerecht werden? Was macht eine neue europäische Identität eigentlich aus? Auch wenn das jetzt etwas komisch klingt: 140.000 SalzkammergutlerInnen, 60.000 WelserInnen oder 53.000 St. PöltnerInnen haben die Chance – früher als die meisten ÖsterreicherInnen – zu EuropäerInnen zu werden. Diese Chance sollte genutzt werden, denn eine Kulturhauptstadt, die sich selbst als Nabel der Welt sieht, bleibt immer auch in sich selbst verhaftet.

Kunst und Kultur können das

Die Voraussetzungen für so einen Prozess könnten besser nicht sein, denn Kulturhauptstadt zu sein bringt alles mit, was man dafür braucht: Geld, Zeit und Aufmerksamkeit. Aber wie entwickelt man eine europäische Identität? Richtig! Mit Kunst und Kultur. Sie sind prädestiniert dafür, Grenzen zu überschreiten, Perspektiven aufzuzeigen, Gewohntes zu hinterfragen und nicht zuletzt Menschen zu involvieren und zu AkteurInnen zu machen. Was dann letztlich rauskommt, wie Europäische Identität zu verstehen ist und ob es nicht vielmehr ganz unterschiedliche Europäische Identitäten geben kann, wird sich zeigen. Für die einen ist es die Aufklärung, für andere das Christentum, vieles ist möglich und denkbar. Identität wird uns nicht in die Wiege gelegt und schon gar nicht angeboren. Sie wird in der Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt geformt. Der Impuls kann dabei von der Politik kommen, aber spätestens dann sind alle gefragt. KünstlerInnen, Kulturschaffende, Pfarrer, PfadfinderInnen, Wirtsleute, Bauern, einfach alle. Breite und Vielfalt sind dabei entscheidend. Gerade Freie Kunst- und Kulturinitiativen sind in der Lage, Teilöffentlichkeiten zu schaffen und sich selbständig – ohne Vorgaben von oben – in diesen Prozess einzubringen. Sie können ein Transmissionsriemen für so einen Prozess sein, der natürlich schon vor der Kulturhauptstadt beginnt und keineswegs mit ihr endet.

Jetzt braucht es mutige PolitikerInnen

Die Notwendigkeit könnte dringender nicht sein, denn das Europäische Projekt ist ernsthaft in Gefahr. RechtspopulistInnen und EuropakritikerInnen sind überall im Aufwind und präsentieren alte Ideen für neue Herausforderungen. Dabei hat die Geschichte eines gelehrt: Nationalismus ist nicht nur dumm, er hat uns binnen weniger Jahrzehnte seit seiner Erfindung ins Elend gestürzt. Und überall, wo er heute seine hässliche Fratze erhebt, hinterlässt er im besten Fall ungelöste Probleme, im schlimmsten aber Krieg und Leid. Mit ihm werden wir keine Meter machen. Genau darum ist das Engagement für Europa auch so wichtig. Wie oft hat man schon als BürgermeisterIn die Chance, etwas wirklich bedeutendes zu tun, das über die eigene Gemeindegrenze hinausgeht? Deshalb mein Appell: Geben Sie sich nicht der Versuchung des Zeitgeistes hin, einer „Mia san Mia“-Mentalität zu huldigen. Lassen Sie sich nicht überreden, in einer neuen Straße ein Zukunftsprojekt zu sehen. Befreien Sie sich aus den Zwängen der Tourismuslogik und sichern Sie sich einen Platz in der regionalen Geschichte. Als jemand, der die Zeichen der Zeit erkannt, eine historische Chance genutzt und die Region zu einer progressiven, aufstrebenden und pro-europäischen gemacht hat, die zum Vorbild für alle künftigen Kulturhauptstädte werden wird.

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