Ins Land eini schaun

Eine Introspektion über den Tellerrand von Ahmed Alqaysi und Edith Huemer

Ahmed und ich treffen uns am Pfingstmontag in Linz. Eiskalt ist es und außerdem regnet es. Ahmed faltet seinen Regenschirm und schüttelt ihn aus. „Wann kommt der Sommer nach Österreich?“, fragt Ahmed. Ich lache und will mich für das grausige Wetter entschuldigen. Ahmed reist aus Nußbach an, wo er mit vier Familien und sechs jungen Männern in einer Flüchtlingsunterkunft lebt.

Was kurios ist in Oberösterreich, dachte sich die Redaktion der KUPF, das fällt am klarsten jemandem auf, der neu ist im Land. Ein solcher Neuling soll für uns einen Blick auf Oberösterreich werfen. Wer neu ist im Land, liegt auf der Hand: Ein Flüchtling soll unseren Horizont erweitern.

Ahmed und ich sitzen im Büro der KUPF. STAY STRONG – stay ist durchgestrichen – steht auf Ahmeds schwarzem T-Shirt. Darüber denke ich nicht lange nach. Ich will von Ahmed einen Text für die Zeitung. Oder mit ihm einen Text schreiben. Ahmed will seine Geschichte erzählen. Also erzählt er mir seine Geschichte. Ahmed Alqaysi ist 23. Er ist im Irak geboren, den er vergangenen Sommer verlassen hat.

Es dauert. Wir suchen gemeinsam nach den richtigen deutschen Worten und nach der korrekten Aussprache. Ahmed hat die wichtigsten Wörter vorbereitet: Fernsehbericht, Führerschein (gibt es im Irak nicht), Polizei. Diese Wörter schlägt er in seinem Notizblock nach oder sucht die Übersetzung mit seinem Smartphone.

Auf Google Maps zeigt mir Ahmed die Städte, in denen er gelebt hat: Bagdad und Ramadi. Ramadi ist die Hauptstadt der Region Al Anbar, die größte Region des Iraks. Al Anbar liegt im Westen des Landes und grenzt an Syrien, Jordanien und Saudiarabien. Im Gegensatz zum Rest des Iraks ist die Region Al Anbar nicht von schiitischen, sondern hauptsächlich von sunnitischen MuslimInnen bewohnt. Ahmeds Eltern leben in Bagdad. Ahmeds Mutter ist eine geborene Schiitin, Ahmeds Vater Sunnit. Ahmed sagt, dass ihm der Unterschied persönlich nicht so wichtig sei.

Von 2006 bis 2009 – so Ahmeds Zeitrechnung – kontrolliert das islamistische Terrornetzwerk Al Kaida die Region Al Anbar. Ahmed beginnt 2006 als Kameramann für das Fernsehen zu arbeiten – zunächst in Bagdad, später in Ramadi – und liefert amerikanischen Medien Videomaterial. Für einen Pressebericht – auch so ein Wort auf Ahmeds Vokabelliste – machte sich Ahmed Ende 2009 mit seinem Auto auf den Weg nach Trebil, an die Grenze zwischen Irak und Jordanien. Eine Bombe bringt sein Auto zur Explosion. „Und dir ist nichts passiert?“, frage ich reflexartig. Schon zeigt Ahmed mir die Narben der Verbrennungen auf seinem Bauch, an seinen Armen.

Ahmed liegt monatelang im Krankenhaus und zu Hause, seine Familie pflegt ihn. 2010 macht er seinen Schulabschluss und beginnt sein Studium, Business Management. Ab 2012 arbeitet Ahmed wieder für das Fernsehen, nun aber als Journalist. Ab 2011 ist die Region Al Anbar frei, weder die USA, noch Al Kaida kontrollieren die Region. Doch unter der schiitischen irakischen Regierung kommt es zu Verletzungen von Menschenrechten, unter denen die sunnitische Bevölkerung leidet. Als es 2013 und 2014 in mehreren irakischen Städten und Regionen zu Unruhen und Aufständen gegen die schiitische Regierung kommt, berichtet Ahmed darüber, etwa für BBC und Al Jazeera. „Plötzlich war Daesch da“, meint Ahmed. Der sogenannte Islamische Staat sorgte dafür, dass sich die Demonstrationen auflösten und die Menschen ihr Haus nicht mehr verlassen konnten oder wollten. Ahmed schließt 2014 seinen Bachelor ab und beginnt im Management des Fernsehsenders Al Masar zu arbeiten.

Anonyme Drohung und zugleich Warnung, am 28. Juli 2015 an Ahmeds Haustür

Am 28. Juli 2015 findet Ahmed einen Zettel an der Tür des Hauses seiner Familie in Bagdad. „Ahmed, wir werden dich töten“, steht darauf. Seinen Eltern zeigt er diese Notiz nicht. Zwei Tage später findet sein Bruder vor ihm eine weitere Notiz an der Haustür: „Raus aus dem Haus, schnell, sie werden kommen, um dich zu entführen.“

Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich.

Momentan bereitet sich Ahmed auf ein Interview mit dem Bürgermeister von Kirchdorf vor. Er plant gemeinsam mit Radio B138 ein Sendeformat. Für sein Stadttagebuch wird Ahmed verschiedene Städte und Dörfer besuchen und mit den Menschen vor Ort sprechen. Dafür lernt er Sätze wie „Was sind die charakteristischen Merkmale Ihrer Stadt?“ Sein erstes Stadttagebuch wird Ahmed Kirchdorf widmen. Auch bei dorfTV hat Ahmed bereits angeklopft.

Ich muss mir endlich einmal Das Fest des Huhnes anschauen, denke ich mir. Diese Anwendung und Umkehrung des eurozentristischen ethnographischen Blicks auf die Gebräuche und Sitten oberösterreichischer UreinwohnerInnen. Und ich werde mir Ahmeds Beiträge im Radio anhören und mir seine Fernsehsendungen anschauen. Mit völlig anderen Augen werde ich Oberösterreich danach nicht sehen. Aber die eine oder andere Irritation ist garantiert.

Edith Huemer verwendet den Begriff „Flüchtling“ bewusst. Weil: Das „–ling“ sollte dafür stehen, dass ein Zustand nur vorübergehend ist und das wäre in diesem Fall wünschenswert. Die Autorin bedauert, dass sie die erste Vernetzungskonferenz von Journalist/innen und Medienschaffenden mit und ohne Fluchterfahrung – „Join Media“ – nicht besuchen konnte.

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