Es ist nichts, nichts mehr, wie es war

Aus einer Vorstellung des Literaturnetzwerk Innkreis ist ein Text zu 9/11 geworden.

 

von Peter Baier-Kreiner

1000 Zeichen hätte ich zur Verfügung gehabt, um das Literaturnetzwerk Innkreis vorzustellen. Nicht ganz ohne Stolz hätte ich von rund 150 Veranstaltungen in knapp vier Jahren erzählen können, eine BesucherInnenstatistik bemühen wollen. Ein Plädoyer für die Literatur hatte ich vorbereitet, um meinen Glauben darüber zu vermitteln, was Kultur bewegen kann.

Dann sterben in den Massakern von New York und Washington Tausende von Menschen, die große Welt draußen gerät aus den Fugen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Eine Liste erstellt sich in meinem Kopf, die aufzählt, was plötzlich wieder einmal alles relativ ist; sie enthält beinahe alles für mich Vorstellbare. Auch der Erklärungsversuch für die Kraft und Faszination von Literatur ist müßig geworden.

Stattdessen versuche ich meiner achtjährigen Tochter, die die Bilder aus dem Fernsehen mitbekommen hat, – aus einem Fernsehen, in dem bis vor kurzem noch das verletzte Bein eines österreichischen Schirennläufers die größte anzunehmende Katastrophe war -, die Welt zu erklären. Ich schaue mir zu, wie ich ihr Sprachlosigkeit zu erklären versuche und sie beruhige. Ich verschweige, daß ich beunruhigt bin, weil ich mir die möglichen Folgen der furchtbaren Geschehnisse noch nicht einmal ausmalen kann. Mir selbst versuche ich mein Mitgefühl mit einem Land zu beschreiben, dessen Politik mir in vielen Facetten verhaßt ist, dessen Kulturlosigkeit mich mehr als einmal staunen ließ, dessen Größenwahn mich immer wieder schaudern macht. Gern würde ich Menschen von dort kennen, um dieses mein Mitgefühl auf jemanden übertragen zu können.

Bedürfen Betroffenheit und Fassungslosigkeit einer Rechtfertigung? Niemand von meinen Freunden, Freundinnen, Bekannten, Verwandten ist unter den Opfern. Ich blicke mich um und stelle fest, daß die Betroffenheit diesmal nicht nur die Gutmenschen erfaßt hat, sondern kollektiv ist, grenzenlos und weltweit. Wird sie gemessen über eine Zahl von Todesopfern, kann sie noch ansteigen, wenn die Zahl der Opfer ansteigen wird? Was ist schrecklicher als schrecklich? Wenn zu einer Anzahl von Opfern dazukommt, daß jeder ausgefallene Flugtag eine Fluglinie Milliarden von Dollar kostet?

An welchem Punkt bricht das Leben von draußen ein in den eigenen Kopf? Wie lange wird es sich diesmal dort aufhalten? Bis sich die internationalen Börsen erholt haben?

Die Gedanken in meinem Kopf sind Fetzen, zusammenhanglos, ungeordnet, wirr. Ich denke an Freunde, die gestorben sind bei einem Autounfall, an jenem ersten Mai vor einigen Jahren, als ein Autorennfahrer ums Leben kam und von der Welt betrauert wurde. „First they take Manhattan, then they take Berlin“ hat Leonard Cohen einmal gesungen. Josef Haslinger fällt mir ein mit seinem Buch „Das Elend Amerikas“, Reinhard P. Gruber mit „Einmal Amerika und zurück“, Michael Scharang mit „Auf nach Amerika“; allesamt haben sie in Ried gelesen, haben sie von Amerika erzählt. An Manfred Koch aus Salzburg denke ich, mit dem ich das Buch „Manhattamania“ gemacht habe. Und sein Kollege Fritz Popp kommt mir unter, der geschrieben hat: Ungebeten tritt ein und verlangt Gastrecht./ Unzeit verstellt die Uhren./ Unglaublich erzählt uns wahre Geschichten./Unfaßbar umarmt uns.

„Wir hocken uns traurig in die Dämmerung“ singt Sven Regener; meine Frau, mein bester Freund und ich fragen uns an diesem frühen Abend des 11. September, an dem die Literatur keinen Platz mehr hat und meine Tochter endlich eingeschlafen ist, am Vorabend wovon wir uns eigentlich befinden.

Peter Baier-Kreiner

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